Seit langem sind die Israelis an der Grenze zum Gazastreifen Ausnahmezustände gewöhnt. Heftige Raketeneskalationen gibt es hier alle Jahre wieder. Viele leiden an posttraumatischer Belastungsstörung. Niemand aber hätte sich einen Horror ausmalen können, wie er an diesem 7. Oktober 2023 seinen Lauf nimmt.
Aus dem Schlaf gerissen werden die Israelis am frühen Morgen durch massive Raketeneinschläge aus dem Gazastreifen. Innerhalb kurzer Zeit fliegen Tausende Geschosse auf israelisches Gebiet. Schon in den Vorjahren ließ sich beobachten, daß die Terroristen die Anzahl der abgefeuerten Raketen enorm gesteigert haben. So können sie das für Bedrohungen aus Gaza wichtigste Raketenabwehrsystem Kipat Barzel („Eiserne Kuppel“) durchbrechen.
An diesem Tag, nur einen nach dem 50. Jahrestag des Beginns des Jom-Kippur-Krieges, geht es ihnen aber um etwas anderes: Das Sperrfeuer soll die Israelis ablenken, während sich gleichzeitig Terroristen auf den Weg machen, die Grenze zu überwinden. Die islamistische Hamas, die diesen Großangriff anführt, hat auf ihrem Telegram-Kanal Videos veröffentlicht: Paragleiter, die in Richtung Grenze fliegen. Darber Raketen. Darnter machen sich Pick-up-Trucks und Motorräder auf den Weg. Der israelische Sicherheitszaun wird mit einem Bulldozer niedergerammt. Daneben starten Drohnen, die mindestens einen Panzer im Grenzgebiet ausschalten. Von rund 30 Einbruchsstellen ist die Rede. Israels Armee zählt später 1.500 von ihr getötete Terroristen auf israelischem Gebiet. Die Hamas war bis zu 20 Kilometer in das kleine Land eingedrungen. Dabei hatte Israel seine Grenzanlage nach Gaza verstärkt. Unter anderem durch eine unterirdische Barriere: Lange hatte vor allem das Szenario des Einbruchs durch Tunnel für Angst gesorgt. Auch jetzt dringen Terroristen unterirdisch ein, teils auch übers Meer.
Wut und Trauer lassen Israel entschlossen zurückschlagen
In Israel angekommen, richten die Terroristen zahlreiche Massaker an. Sie stürmen in die 27.000-Einwohner-Stadt Sderot, aber auch in kleine Kibbuzim, dringen in Häuser ein, erschießen Männer, Frauen, Kinder und Alte. Auf einem Festivalgelände nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt findet eine „Rave for Peace“-Veranstaltung statt. Allein hier werden später mehr als 260 Leichen geborgen darunter viele Touristen aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Thailand, Nepal und Mexiko. Augenzeugen berichten von Vergewaltigungen. Videos zeigen, wie reglose gebrochene Körper auf die Pritsche eines Jeeps geladen und unter „Allahu Akhbar!“-Rufen abtransportiert wurden.
Insgesamt zählt Israel bis Redaktionsschluß am Dienstag abend mehr als 900 Tote israelische Zivilisten. Mehr als 100 Menschen werden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Menschliche Schutzschilde, die auch als Pfand zum Austausch dienen können. Die Hamas wird später drohen, sie nacheinander zu ermorden. Das alles spielt sich live im israelischen Fernsehen und in den sozialen Netzwerken ab, in dem immer wieder Menschen zugeschaltet werden, die in Todesangst in ihren Häusern festsitzen oder nicht wissen, was mit ihren Angehörigen ist. Das ändert sich auch in den Folgetagen nicht.
Ein „11. September“, ein „zweiter Jom-Kippur-Moment“, der nächste IS oder ein Überfall wie von SS-Einsatzgruppen – in Israel kursieren verschiedene Vergleiche. Klar ist: Dieser Tage werden Zehntausende direkt betroffene Israelis für ihr Leben gezeichnet. Mit ihnen ist eine gesamte Nation traumatisiert: Die Armee, unterstützt durch die Geheimdienste, ist der irdische Fels, auf dem Israel gebaut ist. Wie war dieser Großangriff möglich? Warum gelang es den Sicherheitskräften noch zwei Tage nach Beginn der Attacke nicht, die vollständige Kontrolle über das eigene Territorium zurückzugewinnen?
Angesichts des nun beginnenden Krieges – 770 Menschen wurden bei den Schlägen Israels im Gazastreifen bereits getötet – halten sich viele mit Anklagen noch zurück. Einige melden sich dennoch zu Wort, erklären Ereignisse der letzten Wochen zu „Zeichen an der Wand“, die man hätte sehen müssen: Massenrandale am Grenzzaun, Raketenabschüsse in Richtung Mittelmeer, ein Treffen von Vertretern verschiedener Terrorgruppen im Libanon. Für Aufregung sorgen auch Berichte, wonach Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angeblich Warnungen aus Ägypten ignorierte. Er sieht sich gezwungen, diese Spekulationen in einer TV-Ansprache scharf zurückzuweisen. Ob die Berichte der Wahrheit entsprechen oder nicht: Es ist gut vorstellbar, daß er diesen Krieg politisch nicht überleben wird und Verantwortung für das vorausgehende Versagen des Sicherheitssystems übernehmen muß. Auch Golda Meir stürzte 1974 über die politischen Nachwirkungen des Jom-Kippur-Krieges. Jetzt steht jedoch möglicherweise die Bildung einer „Notstandsregierung“ unter Einschluß der Opposition an – so wie zum Sechs-Tage-Krieg 1967.
Derweil schlagen Wut und Trauer in feste Entschlossenheit um, vernichtend zurückzuschlagen. „Wir werden ihnen einen Preis abverlangen, den sie noch in Jahrzehnten nicht vergessen werden“, sagt Netanjahu. „Wir werden den Nahen Osten verändern.“ Die Armee mobilisiert über 300.000 Reservisten – laut ihren Angaben so viele wie noch nie in so kurzer Zeit. Erstmals seit 1973 befindet sich der Staat rechtlich wieder in einem Kriegszustand.
Die bisherige Gaza-Strategie, auf ein Auskommen mit der Hamas zu setzen, deren Ruhe mit humanitären Zugeständnissen zu beantworten, zugleich aber beschränkte Eskalationen in Kauf zu nehmen, steht nun radikal in Frage. Die Rufe danach, die Terrororganisation vollständig zu zerstören, tönen laut, ebenso Forderungen, das operative Vorgehen der Armee neu zu denken: „Wir müssen uns von dem Muster gezielt-chirurgischer Schläge verabschieden“, sagt etwa der vormalige Nationale Sicherheitsberater Meir Ben-Schabbat. Er fordert auch die Praxis des „Dachklopfens“, mit der Israel palästinensische Zivilisten bislang vor Luftschlägen warnte, zu beenden.
Doch ist eine langfristige Auslöschung der Hamas möglich? Die Organisation, die sich seit ihrer Gründung Ende der 1980er Jahren auch mit sozialen Leistungen an die Bevölkerung profiliert, stützt sich auf hohe Zustimmungswerte unter Palästinensern. Das gilt auch für das israelisch kontrollierte, von vielen Palästinensern bewohnte Westjordanland, wo immer mehr Hamas-Zellen operieren.
Die Gaza-Selbstverwaltung könnte aufgehoben werden
Jedenfalls unumgänglich scheint eine Bodenoffensive, die auch zwischen Gaza und Chan Junis für viele zivile Opfer sorgen dürfte. Es wäre nicht das erste Mal, daß israelische Soldaten seit dem Abzug im Jahr 2005 in die Küstenenklave zurückkehren; aber dieses Mal dürfte alle vorherigen Einmärsche in den Schatten stellen. Obgleich der Rückzug vor 18 Jahren gegen schwere innerisraelische Widerstände durchgesetzt wurde, strebt heute kaum einer mehr freiwillig eine erneute längerfristige Besetzung der Enklave an – sie zieht neue Probleme über Jahre, vielleicht Jahrzehnte, nach sich. Aber um Freiwilligkeit geht es jetzt nicht mehr.
In Israel sieht man sich auch unter zeitlichen Handlungsdruck gestellt: Wenige Tage nach den schrecklichen Bildern aus Südisrael ist die internationale Unterstützung noch groß. Je länger der Krieg dauert, desto stärker dürfte jedoch der Druck werden, ihn zu beenden. Israel ist immer wieder zum vorzeitigen Abbruch von Operationen oder Kriegen gedrängt worden – auch von den USA, die nun als Zeichen der Unterstützung, aber auch der Abschreckung gegenüber dem Iran einen Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer verlegen.
Schon jetzt ist international die Sorge groß, daß sich der Krieg auf weitere Fronten ausweiten könnte. Im Westjordanland kommt es bereits zu Zusammenstößen, die weiter eskalieren könnten. In Syrien und vor allem im Libanon steht die Hisbollah bereit, die die israelische Armee in diesem Jahr schon verschiedentlich herausgefordert hat, am Sonntag einige Geschosse in Richtung Israel feuert und in ihren Reihen erste Tote durch israelische Gegenwehr beklagt. Der letzte größere Schlagabtausch mit dem jüdischen Staat liegt mehr als 17 Jahre zurück: 2006 hatte die Terrororganisation den Israelis in einem einmonatigen Krieg große Schwierigkeiten bereitet.
Seitdem konnte sie ihr Waffenarsenal stark ausweiten. Im Vergleich zur Hamas verfügt sie nicht nur über deutlich mehr Geschosse, sondern auch über technisch versiertere Mittel, darunter Marschflugkörper. Mit der Radwan-Einheit hält die „Partei Gottes“, so die Übersetzung der Hisbollah, zudem eine Spezialeinheit bereit, die für eine Terrorinvasion in Galiläa sorgen könnte. Ein vollständiger Kriegseintritt der Hisbollah würde die israelische Armee und die Heimatfront vor noch größere Herausforderungen stellen.
Im Raum steht auch – wie häufig zu Beginn solcher Kriege – eine noch größere Eskalation regionalen Ausmaßes, die den Iran mit einbezieht. Sowohl die schiitische Hisbollah als auch die sunnitische Hamas werden finanziell wie militärisch im großen Umfang von Teheran unterstützt. Inwiefern der Mullah-Staat auch unmittelbar an der Planung der Großoffensive beteiligt war, ist unklar. Vor gut einem Monat hatte sich Irans Außenminister Hossein Amir-Abdollahian zu Gesprächen mit Hamas- und Hisbollah-Führern im Libanon aufgehalten: „Der Widerstand ist heute in seinem besten Zustand“, ließ er seinerzeit verlauten. „Und wir sind sicher, daß wir die totale Niederlage des zionistischen Feindes erleben werden.“