Nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen am vergangenen Wochenende und angesichts des Terrors der Palästinenser gegen Israel steht die Migrationskrise in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr an erster Stelle. Gleichzeitig deutet alles darauf hin, daß von einer Entspannung der Situation keine Rede sein kann – im Gegenteil.
Bereits für September hat die Bundespolizei nach Informationen der Welt mehr illegale Einreisen nach Deutschland festgestellt als in jedem anderen Monat dieses Jahres. Damit ist bereits jetzt der Wert des gesamten Jahres 2022 überschritten. Auch die Asylantragszahlen schnellen in die Höhe. Demnach sind die illegalen Einreisen gegenüber August, in dem 14.701 illegale Einreisen registriert wurden, um rund 42 Prozent gestiegen. Im September kamen pro Tag durchschnittlich rund 700 Menschen illegal insbesondere über die Grenzen zu Polen und Tschechien nach Deutschland, und auch im Oktober deutet bislang nichts darauf hin, daß sich an dieser Tendenz etwas ändert.
Sachleistungen statt Bargeld für Asylanten gefordert
In den ersten neun Monaten des Jahres sind mehr als 91.750 Menschen unerlaubt nach Deutschland eingereist. Im Gesamtjahr 2022 waren es 91.986. Insbesondere in den Monaten September bis November waren im vergangenen Jahr die Zahlen auf fünfstellige Werte in die Höhe geschnellt. Auch bei den Asylanträgen steigen die Zahlen weiter an. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden bis Ende September in Deutschland 251.200 Asylanträge gestellt, davon sind rund 233.700 Erstanträge. Allein im September beantragten über 27.800 Menschen erstmalig Asyl in der Bundesrepublik. 2022 waren es auf das ganze Jahr bezogen 244.132.
Der Druck auf die Politik, angesichts der Überlastung von immer mehr Städten und Kommunen bei der Unterbringung und Integration von Migranten eine spürbare Verringerung der Zuzüge von Ausländern nach Deutschland zu erreichen, wächst mit jedem Tag. Die weiter steigende Zahl von Asylbewerbern stellt die Kommunen nach Ansicht von Sachsens Ministerpräsident vor erhebliche Probleme. „Wir bekommen sie nicht mehr untergebracht. Die bleiben zu großen Teilen in Gemeinschaftsunterkünften“, sagte Michael Kretschmer (CDU) der Leipziger Volkszeitung. Es gebe keine freien Wohnungen mehr, stattdessen mehr Zeltstädte. Er rechne damit, daß die Flüchtlinge bald in Turnhallen untergebracht werden müssen. „Mit Zeltstädten wird es eine Weile gehen, solange es nicht kalt ist. Aber wenn der Winter kommt, ist das keine Option mehr.“
Neben den Versuchen, den Weg für Migranten nach Deutschland zu erschweren, wird in Berlin derzeit viel darüber diskutiert, wie möglicherweise falsch gesetzte Anreize, sich überhaupt auf den Weg in die Bundesrepublik zu machen, reduziert werden könnten. Im Fokus steht hierbei insbesondere, finanzielle Anreize zu verringern. Nachdem sich bereits Union, AfD und sogar die Regierungspartei FDP dafür ausgesprochen haben, bei der Versorgung von Asylbewerbern künftig von Geldzahlungen auf Sachleistungen umzustellen, hat nun mit Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke auch ein SPD-Politiker diese Forderung unterstützt. „Um die Anreize zur Migration nach Deutschland zumindest etwas zu verringern, halte ich die Umstellung von Barzahlungen auf Sachleistungen für einen ersten geeigneten Schritt“, sagte er am Dienstag der Nachrichtenagentur dpa. Widerstand gegen diese Pläne kommen weiterhin aus den Reihen der Grünen, aber auch von den Kommunalverbänden – allerdings vor allem aus Sorge vor einer ausufernden Bürokratie.
Ampel setzt lieber auf europäische Lösung
Für Woidke ist die Umstellung auf Sachleistungen allerdings nur ein Baustein zur Lösung der aktuellen Krise: „Es braucht jetzt eine deutliche Senkung der Migrationszahlen für Deutschland einerseits und eine stärkere Bekämpfung der Schleuserkriminalität anderseits.“ Das sei zuerst die Aufgabe der Bundesregierung. „Deshalb müssen Bund und Länder schnell zusammenkommen, denn wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung, um in der Migrationsfrage endlich Lösungen zu finden“, sagte Woidke mit Blick auf die Ministerpräsidentenkonferenz an diesem Freitag. In Berlin waren in den vergangenen Tagen bereits Stimmen laut geworden, den von Bundeskanzler Scholz für November geplanten Flüchtlingsgipfel mit den Länderchefs auf diesen Termin vorzuziehen.
Wie uneinheitlich die Vorstellungen zur Migrationspolitik innerhalb der Ampel mittlerweile sind, zeigt die parallel stattfindende Diskussion über die Frage, ab wann Migranten in Deutschland arbeiten dürfen. Die Fraktionschefin der Grünen, Katharina Dröge, sagte in der vergangenen Woche den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, man brauche „endlich eine vollständige Abschaffung der vielfach noch bestehenden Arbeitsverbote für Geflüchtete“. Damit stieß sie bei ihrem liberalen Koalitionspartner prompt auf Widerspruch. Das Ziel könne nicht sein, „einfach ein weiteres Tor“ für irreguläre Migration zu öffnen, sagte der Vorsitzende der FDP-Fraktion Christian Dürr im Deutschlandfunk.
Wie groß der Unmut der Bevölkerung über die Migrationspolitik mittlerweile ist, zeigen nicht nur die Analysen der Zuwächse für die AfD bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa für die Bild-Zeitung verlangen die Bürger mehrheitlich einen Kurswechsel in der Migrationspolitik: 59 Prozent votierten dafür, während sich 18,5 Prozent der Befragten dafür aussprachen, die aktuelle Politik beizubehalten. Und in einer Umfrage desselben Instituts für die JUNGE FREIHEIT gab nahezu die Hälfte der Wähler in Hessen und Bayern im Vorfeld des Urnengangs an, die Migrationspolitik sei wahlentscheidend für sie (JF 41/23). 47 Prozent der Wähler in Hessen und 49 Prozent der Wähler in Bayern bezeichneten das Thema als das wichtigste.
Angesichts der Krise hat die Union die Bundesregierung daher aufgefordert, die bereits Anfang September von Bundeskanzler Olaf Scholz in Aussicht gestellte Zusammenarbeit mit der Opposition endlich umzusetzen. Während Scholz dabei vor allem den Abbau von Bürokratie im Sinn hatte, schlägt CDU-Chef Friedrich Merz eine Zusammenarbeit zur Lösung der Migrationskrise vor. Es müsse dringend etwa darüber gesprochen werden, wie die irreguläre Migration in die sozialen Sicherungssysteme reduziert oder möglichst schnell gestoppt werden könne, sagte Merz. Doch daß es tatsächlich in absehbarer Zeit zu einer Zusammenarbeit der Ampel mit der Union zur Eindämmung der Migrationskrise kommen wird, gilt in Berlin derzeit als sehr unwahrscheinlich.
In der Ampel hofft man stattdessen auf schnelle Erfolge bei der Reform der Gemeinsamen Europä-ischen Asylpolitik. Die EU-Innenminister hatten sich Anfang Oktober unter anderem darauf geeinigt, daß Asylverfahren künftig bereits an der EU-Außengrenze stattfinden können und das gesamte Prüf- und Rückführungsverfahren maximal sechs Monate dauern soll. Zudem sind Rückführungsabkommen mit Drittstaaten geplant. Doch bis diese Änderungen greifen, können noch Monate vergehen. Für entsprechende Verschärfungen hat sich unterdessen der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, ausgesprochen. Das Asylrecht dürfe nicht länger zweckentfremdet werden „als Türöffner und Rechtfertigung einer an sich illegalen Einwanderung“, so Papier.