© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/23 / 13. Oktober 2023

„Nicht in die Falle gehen“
Interview: Wie konnte es zur bisher schlimmsten Niederlage Israels kommen? Entzündet sich nun mit einem Einmarsch in den Gaza-Streifen ein großer Krieg? Fragen an den Jerusalemer Militärhistoriker Martin van Creveld
Moritz Schwarz

Herr Professor van Creveld, wie konnten Israels Armee und Geheimdienst, die als die vielleicht besten der Welt gelten, so überrumpelt werden? 

Martin van Creveld: Kein militärischer Angriff kann so gut vorbereitet werden, daß er nicht erkannt werden kann – vor allem im nachhinein. Ich vermute, der wichtigste Grund für dieses Scheitern war Wunschdenken: Israel suchte Ruhe und Frieden – und so ist es zu der irrigen Annahme gekommen, daß auch der Feind nichts anderes wolle als Ruhe und Frieden. Das hat der israelische Generalstab bis zum letzten Moment immer wieder gesagt. Man nennt das Spiegelung.

Kritiker werfen der Regierung Netanjahu vor, Truppen zum Schutz der Grenze zum Gaza-Streifen abgezogen und nach Osten zum Schutz der Siedler im Westjordanland verlegt zu haben. Trifft das zu und erklärt das vielleicht die Katastrophe?

van Creveld: Ich muß sagen, daß ich mir diesbezüglich über die Einzelheiten nicht sicher bin. Aber auf jeden Fall ist offensichtlich, daß die „Decke“ zu kurz war, um alles und jeden gleichzeitig zu bedecken.

War Israel durch den Angriff der Hamas am Sonnabend, so wie zu Beginn des für Ihr Land traumatischen Jom-Kippur-Kriegs im Oktober 1973, in der Gefahr, überrannt und militärisch besiegt zu werden?  

van Creveld: Der Angriff von 1973 war viel, viel gefährlicher! Vor allem im Norden, auf den Golanhöhen, wo das Operationsgebiet der „Israeli Defense Force“, wie die israelischen Streitkräfte heißen, nur von sehr begrenzter strategischer Tiefe war. Allerdings gibt es auch eine andere Möglichkeit, die Ereignisse zu betrachten: Wenn man sich die Zahlen näher anschaut, dann stellt man fest, daß in der gesamten 120jährigen Geschichte des arabisch-israelischen Konflikts kein einziger Tag so viele jüdische Opfer gefordert hat wie dieser 7. Oktober 2023. Da nun jedoch der Überraschungseffekt verbraucht ist, ist es nicht wahrscheinlich, daß etwas vergleichbar Schreckliches auf ähnliche Art und Weise je wieder passieren wird. Selbst 1973 fielen übrigens nicht mehr als 200 israelische Soldaten an einem einzigen Tag. Das bringt einen schon zum Nachdenken ...

Statt mit dem Überraschungsangriff von 1973 vergleichen viele den Überfall vom 7. Oktober mit dem 11. September 2001. War das am Sonnabend also keine militärische Offensive, sondern ein Terroranschlag?

van Creveld: Zweifellos ist die treffendste Analogie die zum 11. September 2001. Denn die damaligen Anschläge haben, ebenso wie nun der Angriff der Hamas, die Existenz der USA beziehungsweise Israels zu keinem Zeitpunkt ernsthaft gefährdet.

Daß die Hamas israelische Soldaten angegriffen hat, ist aus militärischer Sicht nachvollziehbar, aber warum diese Massaker an Zivilisten? 

van Creveld: Was das Töten von Zivilisten angeht, so denke ich, der wesentliche Grund ist, daß die Palästinenser uns Zionisten beziehungsweise Juden wirklich hassen – und das aus ihrer Sicht auch aus gutem Grund. 

Selbst wenn der Aufmarsch der Hamas unbemerkt blieb, hätten die israelische Armee und Polizei in der Lage sein müssen, den Überfall noch abzuwehren, nachdem die Terrorkommandos die Grenze passiert, aber noch nicht die ersten Siedlungen erreicht hatten?  

van Creveld: Tja, wie will man das bemessen? Natürlich wäre das möglich gewesen, hätte unser Geheimdienst seine Arbeit erledigt und der Generalstab der Streitkräfte die israelischen Truppen auf die richtige Art und Weise sowie zur richtigen Zeit mobilisiert und ins Feld geschickt. Es hätte dann zweifellos Verletzte gegeben, aber es wäre nicht zu Ereignissen eines solchen Ausmaßes gekommen, wie wir sie in den letzten Tagen erleben mußten.

In Ihrem Buch „Pussycats“, für die deutsche Ausgabe salopp mit „Wir Weicheier“ übersetzt, gehen Sie der Frage nach, warum wir, die westlichen Nationen, „uns nicht mehr wehren können – und was dagegen zu tun ist“. Hat der schockierende Erfolg der Hamas auch mit dem zu tun, was Sie darin analysieren? 

van Creveld: Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Denn Krieg ist eine imitative Tätigkeit. Was meine ich damit? Nun, seit 1982, dem Beginn des israelischen Libanonkrieges, hat unser Land nur noch Gegner bekämpft, die militärisch viel schwächer waren als es selbst. Wenn du aber nur noch Schwächere bekämpfst, dann wirst du am Ende selbst schwach.

Das ist an sich nachvollziehbar, denkt man etwa an Europa oder die USA. Aber im Gegensatz zu diesen ist Israel trotz der militärischen Unterlegenheit seiner Gegner ständig in Gefahr, von einer numerischen arabischen Übermacht ausgelöscht zu werden. Da fragt man sich schon, warum auch die israelische Gesellschaft von dem Effekt betroffen ist? 

van Creveld: Das ist meiner Meinung nach wirklich der entscheidende Punkt – lassen Sie ihn mich also wiederholen: Seit Israel 1979 Frieden mit seinem bis dahin mächtigsten Feind, Ägypten, geschlossen hat, war jeder einzelne Feind, den wir bekämpft haben, viel schwächer als wir selbst. Infolgedessen haben wir uns dem angepaßt – und sehr oft, ohne es selbst zu bemerken.

Wird Ministerpräsident Netanjahu als Antwort auf den Überfall der Hamas nun den Gaza-Streifen besetzen lassen, wie manche Beobachter mutmaßen? 

van Creveld: Um ehrlich zu sein, kann ich mir nur schwer vorstellen, daß er das tun wird. Wahrscheinlicher ist wohl, daß er Gaza „in die Hölle bomben“ wird, bis man dort zu Verhandlungen bereit ist.

Warum glauben Sie, wird Netanjahu den Gaza-Streifen nicht besetzen, wäre das denn die falsche Strategie? 

van Creveld: Ja, denn es würde nicht zum Erfolg führen. Im Gegenteil sogar, Gaza wird nämlich für alle israelischen Truppen, die dort einrücken, zu einer Falle. Es käme zu hartnäckigen Häuserkämpfen, die Unmengen an Opfern produzieren, ohne Aussicht darauf, irgendetwas Nützliches zu erreichen. Ganz zu schweigen davon, einen Sieg zu erringen – was auch immer „Sieg“ in diesem Fall bedeuten mag. Würden wir in Gaza einmarschieren, müßten wir zudem mit starken negativen Reaktionen seitens der arabischen Länder rechnen, mit denen wir inzwischen Frieden geschlossen haben, also Ägypten, Jordanien und andere.

Beobachter fürchten, sollte die wie auch immer geartete Hauptoffensive gegen Gaza beginnen, könnte die im Libanon, gegenüber der Nordgrenze Israels stehende Hisbollah in die Kämpfe eingreifen. Allerdings wäre das, da sie ja wie die Hamas nur eine Miliz ist, militärisch überhaupt relevant?

van Creveld: In der Tat ist die Hisbollah, wie die Hamas, nicht in der Lage, Israel zu besiegen – was auch immer man unter dem Wort verstehen mag. Allerdings könnte sie durch den Einsatz ihrer Raketen und Drohnen, von denen sie angeblich über Zehntausende verfügt, erhebliche Verwüstungen in Israel anrichten.

Ziel Ihrer Regierung wird nun wohl sein, die Hamas zu zerschlagen. Aber ist das überhaupt möglich, während es Israel nur weitere Opfer kostet? Und selbst wenn es gelingt, wird die Hamas sich danach nicht neu formieren und wieder im Gaza-Streifen festsetzen?

van Creveld: Wie hoch auch immer die Zahl der Opfer für Israel bei der kommenden Operation sein mag, sie wird wahrscheinlich nicht wieder 1.000 Tote an einem einzigen Tag betragen, wie das am 7. Oktober der Fall war. Und was die „Zerschlagung“ der Hamas betrifft, so können die israelischen Streitkräfte sie sicherlich für einige Zeit schwächen. Was aber danach passiert, das bleibt in der Tat abzuwarten. 

Was hat die Hamas aus Ihrer Sicht überhaupt mit dem Angriff bezweckt? Denn es ist deren Führung doch zweifellos klar, daß ihre Kämpfer gegen die Antwort der hochgerüsteten israelischen Streitkräfte militärisch nicht den Hauch einer Chance haben.

van Creveld: Ich denke, offenbar war das ursprüngliche Ziel ihres Überfalls mittels Geiselnahmen so viele ihrer Angehörigen wie möglich aus den israelischen Gefängnissen zu befreien. Darüber hinaus – wer weiß? Da ihr anfänglicher Erfolg viel größer war, als sie wohl selbst erwartet haben, kann es gut sein, daß die Hamas-Führer sich selbst nicht im klaren sind, wozu dieser nun dienen könnte.

Wollte die Hamas damit vielleicht gerade den Einmarsch der Armee in Gaza provozieren? 

van Creveld: Das wäre eindeutig eine Möglichkeit. Aber wie ich schon sagte, eine solche Invasion würde die israelischen Streitkräfte direkt in eine Falle tappen lassen. Wie will man etwa die zwei Millionen oder mehr Einwohner Gazas, von denen jeder Israel haßt und viele bewaffnet sind, regieren?

Manche vermuten hinter dem Terror der Hamas eher einen geopolitischen als einen militär-strategischen Zweck, nämlich daß Israels harte Reaktion, die allein schon aufgrund der Wirkungsweise moderner Waffen unvermeidlich viele Opfer unter den palästinensischen Zivilisten in Gaza kosten wird, einen Keil in den Aussöhnungsprozeß zwischen Israel und Saudi-Arabien und vielleicht auch anderer arabischer Staaten treibt.

van Creveld: Wahrscheinlich spielt auch dieses Ziel für die Hamas eine Rolle, und leider wird ihre Rechnung in der Hinsicht wohl auch aufgehen. Ich bin allerdings kein Fachmann für die Hamas und nicht vertraut mit den Kalkulationen dieser Leute. Dennoch erscheinen mir auf jeden Fall diese Überlegungen als zweitrangig.

Sie sehen allerdings eine neue große Gefahr auf Israel zukommen: die Möglichkeit eines Bürgerkrieges. Wie kommen Sie darauf? Wie wahrscheinlich ist der und zu was würde er führen? 

van Creveld: Schon seit einigen Jahren ist Israel von einem Kampf zwischen Juden und Arabern – man darf nicht vergessen, daß wir über eine Million „alte“ Araber innerhalb unserer Grenzen von vor 1967 haben –, aber auch zwischen Religiösen und Säkularen, aschkenasischen und sephardischen Juden, Linken und Rechten sowie Reichen und Armen bedroht. Gegenwärtig werden all diese Unterschiede von dem Angriff der Hamas überlagert. Aber wenn der Krieg gegen diese zu Ende ist, dann werden sie alle bald wieder zurückkehren – und das Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen innerhalb der israelischen Gesellschaft beginnt erneut. 

Tatsächlich schwelte in Israel bis zum Angriff der Hamas ein tiefgreifender Konflikt darum, daß die politische Rechte, in Gestalt Premier Netanjahus, aus Sicht ihrer Kritiker die israelische Demokratie demontiere. Trifft der Vorwurf wirklich zu, will die Regierung Ihres Landes tatsächlich die Demokratie abschaffen?

van Creveld: Ich halte dieses Problem in der Tat für sehr ernst, vor allem auf lange Sicht. Denn Demokratie in Form von Wahlen ist gut und schön, aber stellen Sie sich zum Beispiel die USA oder auch Deutschland ohne eine Verfassung vor – sowie und/oder ohne ein oberstes Gericht, das entscheidet, was verfassungskonform und was verfassungswidrig ist! Wie die alten Römer zu sagen pflegten: „Quis custodiet ipsos custodes?“ Wer zensiert die Zensoren selbst?

Wie wirkt sich der Terror der Hamas konkret auf diesen innerisraelischen Konflikt aus? Hilft er Netanjahu, seine Ziele durchsetzen, weil durch den Angriff die Opposition ihm nun zur Seite stehen muß? 

van Creveld: Nein, ganz und gar nicht. Denn bis dieser Krieg vorbei ist, wird er nichts durchsetzen können. Und danach, wenn, wie gesagt, das Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisung wieder in Gang kommt, wird Netanjahu sogar weniger umsetzen können als zuvor.

Warum?

van Creveld: Weil, solange der Krieg andauert, das politische System halb gelähmt ist – und wenn er vorbei ist, durch gegenseitige Schuldzuweisungen fast gänzlich gelähmt sein wird.

Die Siedlungspolitik Israels treibt die Palästinenser an die Seite der Hamas. Könnte diese entscheidend geschwächt werden, wenn Israel „Land gegen Frieden“ gibt, wie mit dem Oslo-Friedensprozeß ab 1993 und dann erneut der sogenannten „Road-Map“ von 2002 beabsichtigt? 

van Creveld: Es geht nicht nur um die Siedlungen, abgesehen davon sind die wichtigsten Fragen: Erstens der Status Jerusalems und zweitens das sogenannte „Rückkehrrecht“, das fordert, daß vertriebene oder geflohene Palästinenser sowie ihre Nachkommen das Recht zur Rückkehr in ihre Heimat und Rückgabe ihres früheren Besitzes haben sollen. Ich erwarte nicht, daß diese Probleme zu meinen Lebzeiten noch gelöst werden, noch, was noch wichtiger ist, zu der meiner Kinder und Enkel, von denen der Älteste – sein Name ist Orr – derzeit seinen Wehrdienst leistet und gerade im Moment, da ich die Antworten auf Ihre Fragen gebe, zum Leutnant ernannt wird. 





Prof. Dr. Martin van Creveld, zählt zu den weltweit bedeutendsten Militärhistorikern und lehrte bis zu seiner Emeritierung 2008 an der Hebräischen Universität Jerusalem, zudem am National Defense College in Washington DC, dem Naval War College der US-Kriegsmarine, der Marine Corps University in Quantico, Virigina sowie als Gastprofessor an der Universität Cambridge. Er beriet die Streitkräfte etlicher Nationen sowie das Pentagon, schrieb zahlreiche Gastbeiträge in internationalen Zeitungen und Magazinen und über 25 Bücher, darunter „Die Zukunft des Krieges“ (1998), „Kriegs-Kultur. Warum wir kämpfen. Die tiefen Wurzeln bewaffneter Konflikte“ (2011) und „Wir Weicheier. Warum wir uns nicht mehr wehren können – und was dagegen zu tun ist“ (2017). Geboren wurde er 1946 in Rotterdam.