Israel wurde ins Herz getroffen. Frieden ist ein hohes Gut, doch leicht verführt er zur Trägheit und trübt den Blick auf den Feind und seine List. Nun führt das Land wieder einen Kampf um sein Überleben, und trotz militärischer Überlegenheit ist es fraglich, ob es diesen längerfristig bestehen kann. Denn ein so kleines Land wie Israel ist auf eine Schutzmacht angewiesen. Lange vor seiner Staatsgründung dachte Theodor Herzl diese Rolle dem Deutschen Reich zu. Historisch geworden sind es die Vereinigten Staaten von Amerika.
Doch Amerika verfolgt eigene geostrategische Interessen im Nahen Osten, die nicht Deckungsgleich mit denen Israels sind, auch wenn dies auf den ersten Blick so scheint. Beispielsweise würde ein nachhaltiger Vernichtungskrieg gegen die Hamas nicht nur Abertausende Tote fordern, mit entsprechenden Reaktionen in der islamischen Welt, sondern Israel müßte auf die eine oder andere Weise auch Rückzugsräume im Ausland angreifen, die von Staaten geduldet werden, die durchaus gleichfalls mit Amerika verbunden sind.
Israel dürfte in Wahl und Nutzung seiner militärischen Mittel schnell die Grenzen der Eskalation gezeigt bekommen. Viel erschwerender jedoch ist, daß dieser Konflikt von einem regelrechten Kulturkampf überlagert ist. Längst sendet jede Erschütterung des Nahen Ostens ihre Schockwellen in unsere Städte. Was die Menschen in Ramallah aufwühlt, es treibt sie durch Masseneinwanderung und demographische Verschiebung auch in Berlin Nord-Neukölln oder Duisburg-Marxloh auf die Straße.
Sie treffen dabei auf eine seltsame Appeasement-Politik, die zwar Israels Existenzrecht zur Staatsraison erklärt, sich aber die überschüssige Bevölkerung seiner einstigen Kriegsgegner einverleibt und aufpäppelt – mit den erwartbaren Folgen nicht nur für die hier lebenden Juden; die zwar die nationalsozialistischen Verbrechen zum Staatskult erhoben hat, aber beharrlich Milliarden Euro in Organisationen versickern läßt, die nicht nur korrupt und ineffizient sind, sondern auf verschlungenem Wege auch Kräfte wie die Hamas stützen.
Was sich hier verbindet, ist ein Amalgam, mit dem Israels Auslandsvertretung bisher nicht umgehen kann und mehr aus Verlegenheit, denn auf Basis einer schlüssigen Deduktion, als „Antisemitismus“ brandmarkt. Denn was sich hier als halbbewußte Motivation der politisch Verantwortlichen verbirgt, ist tatsächlich eine völlig neue Form des Judenhasses. Bisher bekannt sind lediglich zwei Formen, der religiöse und der nationalistische Judenhaß. Das hier aber ist der multikulturelle Judenhaß. Was verbirgt sich dahinter?
Es ist das seltsame Schicksal des jüdischen Volkes, in Konflikt mit der jeweils gerade vorherrschenden sozialen Idee zu geraten. Die Sozialordnung des Mittelalters beruhte auf starken Ungleichheiten ihrer Mitglieder. Die daraus resultierenden zentrifugalen Kräfte wurden durch die eisernen Faßreifen der Religion aufgefangen. Der Fürst auf seinem Thron wie der Verbrecher am Galgen, sie glaubten alle an den gleichen Gott, und sie alle bekamen von Gott ihren Platz zugewiesen. Sie alle – bis auf einen.
Der Jude, so friedfertig er auch sein mochte, war durch seine bloße Existenz eine Provokation. Erst als zu Beginn der Neuzeit die Kirche aufhörte, mit der Gesellschaft identisch zu sein, verblaßte der religiöse Judenhaß. Doch mit dem Auftreten einer neuen Sozialordnung tauchte auch eine neue Form des Hasses auf. Welche soziale Idee verbirgt sich hinter dem Nationalstaat? Jene geht von der rechtlichen Einheit eines Territoriums mit einem Volk aus.
Hier lebt der Spanier, hier gelten seine Gesetze. Jenseits der Grenze lebt der Franzose, dort gelten seine Gesetze. Jedes Volk hat so seinen Platz. Sie alle, bis auf eines. Überall und nirgends, verstreut unter diesem oder jenem Gesetz lebend, aber doch seine eigene Identität bewahrend, war auch hier wieder die bloße Existenz, trotz aller Loyalität gegenüber dem jeweiligen Staat, bereits ein Infragestellen der Nation. Der religiöse wurde so durch den nationalistischen Judenhaß verdrängt.
Das waren die vergangenen Formen des Judenhasses. Doch jetzt dämmert eine neue Sozialordnung herauf. Eine Ordnung, die alles Überkommene abstreifen will. Religion, Kultur, Tradition, das alles sind nur Schnipsel, mit denen der einzelne den eigenen Bedürfnissen gemäß sein Inneres auskleidet. Gefällt es ihm nicht, dekoriert er es einfach neu, denn er ist nun Weltbürger, der geschichts- und identitätslos im Hier und Jetzt lebt. Dort trifft er andere, die ebenso blind dahinleben. Sie alle sind die multikulturelle Gesellschaft.
Sie alle, bis auf einen. Was macht der Jude? Er nimmt die Waffe in die Hand und gründet die alte Heimat neu. Er stellt sie entsichert neben sich, greift zur Tora und lernt die alte Muttersprache neu. Er bestellt das Feld, er baut ein Haus, er führt eine Jüdin hinein und seine Kinder hinaus in einen Staat der Freien und Gleichen. Kurzum alles, was die „progressiven Kräfte“, die „multikulturelle Gesellschaft“ eigentlich überwinden will, er, der es bereits verloren hatte, erschafft das alles aus einem enormen Willensakt neu.
Der Staat Israel ist daher durch seine schiere Existenz für sich fortschrittlich gebende Kreise ein Ärgernis. Was andere Völker erst verlieren sollen, wozu gewaltige Menschenströme in Gang gesetzt wurden, um sie vor vollendete Tatsachen zu stellen, hier hat ein Volk dem Rad des Schicksals in die Speichen gegriffen. Ein verlockendes Vorbild für andere, scheinbar dem Tod geweihte Völker. Das ist der Grund für den geradezu beleidigten Tonfall, mit dem von dieser Seite über den Staat Israel gesprochen wird. Das ist der multikulturelle Judenhaß.
Geduldet wird Israel nur da, wo sein Staatsvolk genauso selbstverloren, genauso hedonistisch vor sich hinlebt wie wir und seinen Selbstbehauptungswillen und den Gebrauch seiner Waffen vergißt. Daß es vergißt, den eigenen Kindern das Erbe zu sichern. Denn wenn es das alles außer acht läßt, dann wird es sich in einem Alptraum wiederfinden, in einem Kampf mit einem erbarmungslosen Feind auf Leben und Tod. Wird es diesen Kampf bestehen? Werden wir ihn bestehen? Dann, wenn der Krieg endgültig auch in unsere Städte eingekehrt ist?