© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/23 / 13. Oktober 2023

Blauer Brief für die Ampel
Wahlen in Bayern und Hessen: Die Ignoranz und Untätigkeit von CDU, SPD und Grünen stärkt nur eine Partei
Werner J. Patzelt

Laut war er schon, jener Schuß, den die Wahlergebnisse aus Bayern und Hessen vernehmen ließen. Und doch haben ihn Leute wie Saskia Esken wieder nicht hören wollen. Dabei war es durchaus eine kleine Bundestagswahl, was da stattfand. 

Hessen, lange Zeit ein SPD-regiertes Land, fiel 1999 an eine noch sehr rechte CDU, weil die SPD sich dort sehr links positionierte. Bis 2013 koalierte diese CDU mit der FDP, seither mit den Grünen, und zwar geräuschlos. Die CSU regiert Bayern – darin eine deutsche Ausnahme – seit 1946, nur unterbrochen von einer SPD-geführten Vierer-Koalition zwischen 1957 und 1960. Während der jahrzehntelangen CSU-Herrschaft, meist bei absoluter Mehrheit, wurde Bayern umfassend modernisiert. Nur zwischen 2008 und 2013 brauchte es eine Koalition mit der FDP. Die kostete die Partnerpartei das parlamentarische Leben. Anders ging es mit den „Freien Wählern“, dem Partner seit 2018. In Bayern erfolgreich wie nirgendwo sonst, gewannen sie nun sogar noch hinzu. Zugleich widerfuhr der CSU seit spätestens 2018 ein spektakulärer Machtverlust. Einst tolle Wahlergebnisse von 50 und mehr Prozent, stürzte sie damals auf rund 37 Prozent ab und erholte sich davon nicht mehr.

Doch wo ist da der Schuß? Auf den ersten Blick brachte der Wahlabend doch gar keine Überraschungen. Die Unions-Ministerpräsidenten Bayerns und Hessens können ihre Koalitionen fortsetzen und werden das auch tun: Markus Söder innerhalb des eigenen Lagers mit den ob ihres neuen Selbstbewußtseins zunehmend ungeliebten Freien Wählern, Boris Rhein mit vernünftigen Grünen als CDU-Traumpartnern seit Angela Merkels Zeiten. Zudem hat die CDU in Hessen stark hinzugewonnen, die CSU in Bayern wenig verloren. Also will die CSU von einem Warnschuß nichts wissen. Und weil Hessens CDU, sozusagen nach Merkels Meisterplan, ihren starken Zuwachs in einer Koalition mit den Grünen erzielte, sieht auch die CDU sich auf dem Erfolgsweg. Allerdings war Bayerns CSU mit ihrem klaren Nein zur Koalition mit den Grünen nicht minder erfolgreich, agiert freilich in einem – anders als in Hessen – recht konservativen politischen Klima. 

Einen Schuß gehört zu haben, geben zwar die Ampel-Parteien zu. Doch als wirklichen Schlag ins Kontor wollen sie ihn ungern gelten lassen, widerfuhr doch fast jeder Bundesregierung große Unpopularität zur Halbzeit. So richtig kleinreden lassen sich die Verluste der Ampelparteien um insgesamt 6,6 Prozent in Bayern, gar um 12,2 Prozent in Hessen, aber auch nicht. Die sind außerdem Teil einer großen bundesweiten Enttäuschung über die Politik der Bundesregierung. In den Ampelparteien fordern deshalb viele deutliche Kurskorrekturen, im Wahlvolk sogar Neuwahlen. Nicht nur handwerklich gab es grobe Fehler bei allzu hektischer Gesetzgebungsarbeit, sondern vielerlei grün-rote Reformpolitik wirkt inzwischen wie aus der Zeit gefallen. Das gilt für die Energie- und Klimapolitik ebenso wie für die Wirtschafts- und Sozialpolitik, und erst recht für die übers Treibenlassen kaum hinausgelangende Migrationspolitik.

Allerdings hat die Ampel bei der durchaus wahlprägenden Migrations- und Energiepolitik genau das fortgesetzt – nur eben noch entschiedener –, was bereits die unionsgeführten Merkel-Regierungen auf den Weg gebracht hatten. Letzteres wiederum geschah einst unter starkem Druck von SPD, Grünen und jenem Großteil der Journalistenschaft, welcher mit diesen Politiken sympathisierte. Aus diesem Grund profitiert die Union ohne Distanzierung von Merkel-Fehlern nur wenig vom Verdruß über die Berliner Ampel.

Stattdessen nützt das Scheitern einstiger Lieblingspolitiken von Union, SPD und Grünen vor allem der AfD. Die wurde in Hessen zur zweitstärksten Partei, in Bayern zur drittstärksten mit nur geringem Rückstand auf die – ebenfalls klar rechts der politischen Mitte positionierten – Freien Wähler. Vor SPD und Grünen liegt die AfD stets. In den ostdeutschen Bundesländern mit Wahlen im kommenden Jahr wird sie, ausweislich derzeitiger Umfragen, wohl sogar die CDU überholen. Nicht-linksgrüne Bevölkerungsmehrheiten gibt es heute schon quer über Deutschland. In Bayern summieren sich die Stimmenanteile von CSU, Freien Wählern und AfD auf nicht weniger als 67,4 Prozent.

Eben das ist jener bei Wahlen schon wiederholt erklungene Warnschuß, den SPDler und Grüne nicht ernst nehmen wollen. Sie klammern sich an den Versuch, es dauerhaft zu verhindern, daß eine nicht-linke Bevölkerungsmehrheit in nicht-linke Parlamentsmehrheiten umgesetzt wird. Eben das unmöglich zu machen ist nämlich der Sinn jener Eide, die man routinemäßig der Union abverlangt: Nie und unter keinerlei Bedingungen werde sie dank Unterstützung durch die AfD solche politischen Entscheidungen herbeiführen, welche zwar die Union wünscht, nicht aber die deutsche Linke. Wie soll sich das in den östlichen Bundesländern demnächst anders als durch Allparteienregierungen gegen die AfD durchhalten lassen? Wobei diese absehbar der AfD nützen und der CDU noch mehr schaden werden. 

Obendrein hatte der Warnschuß vom Wochenende einen ganz besonderen Klang. Unübersehbar war es gerade die – inzwischen von über zwei Dritteln der Bevölkerung abgelehnte – deutsche Migrationspolitik, welche der AfD erneut mehr Wähler zutrieb. Gar aus allen politischen Lagern zog sie Wähler an, die allermeisten von CDU/CSU und den Nichtwählern. Der Grund ist offensichtlich: Seit einem Jahrzehnt wird es in Deutschland vermieden, die Befürwortung oder Ablehnung der seit Merkel als alternativlos geduldeten selbstermächtigten Zuwanderung zum Thema von Wahlkämpfen zu machen. Und weil es dem Wahlvolk so verwehrt blieb, eine klare Entscheidung zur Migrationspolitik selbst zu treffen, dient die Wahl der AfD inzwischen als Quasi-Plebiszit. 

Obendrein gilt es zu begreifen, daß der Aufschwung der AfD keineswegs allein davon kommt, daß „die von der Demokratie überforderten Ostdeutschen“ sich als rechtsradikal erwiesen und deshalb ihre Stimmen der AfD gäben. Denn vor allem spricht die AfD solche Bürger an, die sich Sorgen um Deutschlands Zukunft machen. Und die Zahl derart besorgter Bürger wächst jetzt eben auch in Westdeutschland, wo – anders als im Osten – lange kein durch falsche Politik herbeigeführter Systemzusammenbruch für derlei Gefahren hatte sensibilisieren können. 






Prof. Dr. Werner J. Patzelt ist emeritierter Ordinarius für Politikwissenschaft an der TU Dresden.