© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/23 / 06. Oktober 2023

Der Seismograph der Jahrhundertkatastrophen
Vor hundert Jahren begann mit der Veröffentlichung von „Das Spinnennetz“ die Karriere des Romanciers Joseph Roth
Dietmar Mehrens

Vor hundert Jahren, am 7. Oktober 1923, begann die Karriere eines der betörendsten Schriftsteller deutscher Sprache: Joseph Roth. Roth, als Moses Joseph Roth 1894 im galizischen Brody geboren, Gymnasium in Brody, Germanistikstudium in Wien, anfangs in Lemberg, gehört zu den schillerndsten Figuren der schreibenden Zunft in den Zwischenkriegsjahren. Sein umfangreiches journalistisches Werk stellt ihn in eine Reihe mit den Großen der Branche: Alfred Polgar, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch. Seine 16 Romane, namentlich „Hiob“ (1930) und „Radetzkymarsch“ (1932), sicherten ihm Weltruhm. Anfangs scheinbar ganz der sozialistischen Idee ergeben, firmierte der gelegentliche Vorwärts-Autor als „roter Joseph“. Doch schon sein Frühwerk ist durchzogen von jüdisch-christlichen Motiven, die eine prinzipielle religiöse Disposition des jüdischen Wortakrobaten erkennen lassen, der sich wie hundert Jahre vor ihm Heinrich Heine dem Christentum annäherte.

Im Jahre 1919 hatte Roth seine journalistische Karriere bei der Wiener Zeitung Der Neue Tag begonnen – nach ersten zaghaften Schritten beim Prager Tagblatt, der Filmwelt und der Wiener Arbeiter-Zeitung. Letztere veröffentlichte ab dem 7. Oktober auch Roths Fortsetzungsroman „Das Spinnennetz“, eine Abrechnung mit Opportunismus und Machtgier vor dem Hintergrund der erstarkenden rechtsradikalen Bewegungen, die die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg prägten. Am 6. November 1923 brach der Druck unvermittelt ab, das Werk blieb offenbar unvollendet. Manuskripte oder Typoskripte sind nicht mehr auffindbar.

Die „Hitlerischen Heiden“ sind prophetisch vorgezeichnet

Mit dem Titel wird die Ähnlichkeit des Hakenkreuzes mit dem Fangnetz einer Spinne evoziert. Der parataktische Berichtstil des geübten Journalisten läßt zunächst nur in Ansätzen etwas erahnen von dem großen Romancier mit seinen sinnlichen Schilderungen ländlicher Lebenswelten in späteren Werken, den wunderbaren Epen „Tarabas“ und „Radetzkymarsch“ beispielsweise, beide wie „Das Spinnennetz“ aufwendig verfilmt. Bis zum Ende der Zwanziger orientierte sich Roth an der literarischen Stilmode der Neuen Sachlichkeit.

Seiner Tätigkeit als Journalist verdankt er die Inspiration zum Thema des Romans. Im Oktober 1922 hatte Roth für die Neue Berliner Zeitung über den Prozeß gegen die Rathenau-Mörder in Leipzig berichtet. Angeklagte wie der nationalistische Jurastudent Willi Günther und der antisemitische Bankbeamte Ernst von Salomon, die geheimnisvolle Organisation Consul, das alles sind Steilvorlagen für die Romanhandlung, die eine deutsche Karriere nachzeichnet: die des Kriegsheimkehrers Theodor Lohse als Mitläufer einer rechtsextremen Bewegung in den politischen Wirren der frühen Weimarer Republik. Einen Kriegskameraden des Protagonisten nennt der Autor Günther. Am Ende einer furchterregenden Entwicklung steht ein skrupelloser Mörder, wie er später für das Hitler-Regime zur unverzichtbaren Machtbasis werden sollte. Zunächst verdingt Lohse sich bei dem jüdischen Juwelier Efrussi als Hauslehrer und finanziert so sein Jurastudium. Eine antisemitische Haltung, die ihm bald den Weg in den Geheimbund S II (eine Anspielung auf die 1921 gegründete SA) weisen wird, hat sich schon in seiner Kindheit bemerkbar gemacht: Theodor wird früh von der „Schädlichkeit der jüdischen Rasse“ überzeugt. 

Der Antisemitismus, wie ihn Roth hier entwirft, ist aber nicht ausschließlich die Folge demagogischer Parolen, es gibt auch individuell-psychologische Motive für Theodor Lohses Entwicklung zum Antisemiten. Sozialneid etwa, mit Blick auf den wirtschaftlich erfolgreichen Efrussi. Und noch ein weiterer Faktor treibt Lohse in rechts-nationalistische Kreise, ein Motiv, das das Frühwerk des Autors durchzieht und dominiert wie kein anderes: das Gefühl der Heimatlosigkeit und Orientierungslosigkeit des Kriegsheimkehrers. Der Krieg mit seinen die gängigen gesellschaftlichen Kodizes und Konventionen aufhebenden Mechanismen macht die Rückkehr in das Sozialgefüge der Friedenszeit zur Überforderung. Roth selbst, im Krieg als Berichterstatter eingesetzt, kannte dieses Gefühl. 

Lohse, der eine Vorzeigekarriere zum SA-Mann hinlegt, ohne daß diese Abkürzung von Roth verwendet würde, setzt im Frieden fort, was er im Krieg gelernt hat: Er tötet die Skrupel in sich ab und geht über Leichen. Am Anfang seiner Karriere steht ein Skandal: Der Leutnant a. D. läßt sich von einem homophilen Prinzen mit Verbindungen zu Lohses Regiment sexuell mißbrauchen. Allerdings sah der „rote Joseph“ den Skandal woanders als seine linken Kollegen heute: Er faßte Homosexualität biblisch als Verfehlung und „Gefährdung des Menschseins“ auf, wie der Roth-Interpret Friedrich Abendroth schrieb; Lohses charakterloses Mitmachen ist der Skandal. Es ist eines von vielen Symptomen für Gott- und Sittenlosigkeit im Leben der Hauptfigur, die zwar in der Religion keinen Halt finden kann, aber die Weltkriegsikone Ludendorff verehrt wie einen Heiligen.

Unaufhaltsam dringt der Kriegsveteran bis in die höchsten Kreise der Organisation S II vor. In ihrem Auftrag bespitzelt er eine Gruppe sozialistischer Terroristen, die einen Anschlag planen. Er läßt seinen Freund Günther über die Klinge springen, räumt einen internen Gegenspieler, den Detektiv Klitsche, aus dem Weg, wird in Pommern zum Chef-Exekutor eines Landarbeiteraufstands und gehört zu den Drahtziehern und Beteiligten einer von der Organisation in Kooperation mit Vertretern des Bismarck-Bundes und der Reichswehr inszenierten Straßenschlacht zwischen rechten Studenten und kommunistischen Arbeitern, die in Roths Darstellung zum Pogrom eskaliert. Nach Klitsches Tod ist die Bahn für den Emporkömmling frei. Doch am Ende wird er zum Spielball eines Mannes, der noch gewissenloser, noch nihilistischer ist als er selbst: Benjamin Lenz. In der Verfilmung von Bernhard Wicki aus dem Jahr 1989 verkörpert diesen jüdischen Bösewicht übrigens Klaus Maria Brandauer; Theodor Lohse wird gespielt von Ulrich Mühe.

Als Beglaubigung der großen Verschwörungstheorie, die zu seiner Zeit in Militärkreisen kursierte, ist die Figur des Benjamin Lenz, die der Jude Joseph Roth hier entwirft, eine gewagte Provokation. Die vermeintlichen Enthüllungsprotokolle der „Weisen von Zion“ haben sich wie die Dolchstoßlegende in rechtsradikalen Kreisen lange gehalten. Die antijüdische Propagandaschrift mit den kruden Thesen war tatsächlich eine Fälschung der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, mit der gegen Juden agitiert werden sollte. Der Text konnte später als nahezu wörtliche Abschrift eines Pamphlets gegen Napoleon III. enttarnt werden.

Doch was Roth eigentlich sagen will, ist etwas anderes: Das Böse kann von jedem Besitz ergreifen, unabhängig von Rasse, Religion oder Nationalität. „Der Mensch der Gegenwart“, hatte er bereits 1920 in einem Feuilleton geschrieben, „trägt das Kainszeichen der Gottlosigkeit auf der Stirn. Er glaubt nicht mehr.“ Theodor Lohse ist die Personifikation dieses Satzes. Als er Hochzeit mit einer Frau aus altem Adel feiert, heißt es im Roman: „Hier heiratete einer, der ohne Sinn getötet, ohne Geist gearbeitet hatte, und er wird Söhne zeugen, die wieder töten, Europäer, Mörder sein werden, blutrünstig und feige.“ Die „Hitlerischen Heiden“, wie der Autor 15 Jahre später die NS-Verbrecher nennen wird, sind im „Spinnennetz“ prophetisch vorgezeichnet. Sie trieben den Entwurzelten und zutiefst Deprimierten immer stärker in die Alkoholsucht, an deren Folgen er schließlich 1939 im Pariser Exil verstarb. Das Ausbrechen der Jahrhundertkatastrophe, deren erste Symptome „Das Spinnennetz“ so scharfsinnig zum Thema machte, erlebte er nicht mehr mit.