© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/23 / 06. Oktober 2023

Hinterrücks und von allen Seiten
Jom-Kippur-Krieg: Vor fünfzig Jahren überfielen die arabischen Nachbarstaaten Israel während des höchsten jüdischen Feiertags
Gregor Maurer

Als am 6. Oktober 1973 massive syrische Truppenverbände, bestückt mit etwa 1.400 Panzern, darunter viele T-55-Panzer sowjetischer Bauart, auf den Golanhöhen auftauchten und gleichzeitig ägyptische Einheiten mit der als unüberwindlich eingestuften Bar-Lev-Linie die israelischen Verteidigungslinien am Suezkanal durchbrachen und Richtung Sinai-Halbinsel vorstießen, befand sich Israel in einem Schockzustand. Was war geschehen? 

Israel hatte sich nach seiner Staatsproklamation am 14. Mai 1948 im direkt folgenden Unabhängigkeitskrieg gegen seine feindlichen arabischen Nachbarn erfolgreich behauptet und seine im UN-Teilungsplan vom 29. November 1947 vorgesehenen Grenzen sogar ausweiten können. Ungeachtet dessen waren die arabischen Staaten zu keinerlei Kompromissen gegenüber dem jüdischen Staat bereit, sondern hielten vielmehr an ihrer aggressiven Politik gegenüber Jerusalem fest. Nach zahlreichen Drohungen und militärischen Vorbereitungen sah sich Israel dann im Juni 1967 zu einem Präventivkrieg genötigt: Im Sechstagekrieg dehnte es nochmals seine Grenzen aus: Der gesamte Sinai, die Westbank einschließlich Ost-Jerusalems und die Golanhöhen wurden erobert. Damit war Israel quasi über Nacht zu einer Besatzungsmacht geworden – ein Zustand, den vor allem die geschlagenen und gedemütigten Nachbarn Ägypten und Syrien nicht auf sich sitzen lassen wollten. Ein Revanchekrieg lag also jederzeit im Bereich des Möglichen. 

Israel stieß erstmals an Grenzen seiner militärischen Macht

Dieser sollte 6. Oktober 1973 beginnen. In einer konzertierten Aktion hatten nämlich Syrien und Ägypten vereinbart, ihren Nachbarn an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, an dem das öffentliche Leben fast vollständig ruht, anzugreifen. Der neue ägyptische Präsident Anwar as-Sadat erhoffte sich, durch einen militärischen Erfolg nicht nur innenpolitisch seine Lage verbessern zu können, sondern auch seine Verhandlungsposition mit Israel. Der syrische Präsident Hafiz al-Assad, der überzeugt war, zusammen mit Ägypten die israelischen Streitkräfte besiegen zu können, war hingegen einzig an der militärischen Zurückgewinnung der Golanhöhen interessiert. Seit dem Sechstagekrieg hatte er aus diesem Grund enorme Anstrengungen unternommen, Syrien zu einer dominierenden militärischen Macht in der arabischen Welt zu entwickeln. 

Die damalige israelische Regierung unter Ministerpräsidentin Golda Meir ignorierte entsprechende Warnungen und Hinweise seitens der Geheimdienste, hatte doch der überwältigende Sieg im Sechstagekrieg zu einem fast grenzenlosen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten geführt. Diese Fehleinschätzung sollte dann auch nachträglich zu ihrem Rücktritt im April 1974 führen.

Nach der ersten Schockstarre und damit einhergehenden militärischen Rückschlägen, aufgrund derer anfänglich sogar der Einsatz der israelischen Atomwaffen in Erwägung gezogen wurde, fing sich die von Verteidigungsminister Mosche Dajan geführte israelische Armee, die schließlich zunächst ihre Truppen hatte mobilisieren müssen, aber rasch und ging nach zwei Tagen erfolgreich in die Gegenoffensive. Auf der Sinai-Halbinsel überquerten israelische Verbände am 16. Oktober den Suezkanal. Südlich der Bitterseen gelang es ihnen unter Führung von General Ariel Scharon, die auf dem Ostufer verbliebene ägyptische 3. Armee einzukesseln. Die israelische Armee stand nun jenseits des Suezkanals fast siebzig Kilometer vor Kairo.

Auch auf den Golanhöhen wendete sich für die israelischen Einheiten recht bald das Blatt. Nach zehn Tagen waren die Syrer vollständig von dem für Israel strategisch bedeutenden Hochplateau vertrieben worden, hatten gut 870 Panzer verloren, und israelische Truppen rückten bis auf fast dreißig Kilometer auf Damaskus vor. Schließlich rief am 22. Oktober der UN-Sicherheitsrat auf Druck der USA und UdSSR alle Kriegsparteien auf, das Feuer einzustellen. Bei Inkrafttreten des Waffenstillstands am 22. Oktober (Nordfront) beziehungsweise am 24. Oktober (Südfront) waren die Syrer besiegt; die eingeschlossene und unversorgte ägyptische 3. Armee stand vor der Vernichtung. 

Die Verluste waren auf beiden Seiten hoch. Auf arabischer Seite gab es über 8.500 Tote zu beklagen. Mehr als 2.600 israelische Soldaten fielen, 7.500 wurden verwundet und 300 gerieten in Gefangenschaft. Die israelische Luftwaffe erlitt große Verluste durch den Einsatz von Flugabwehr-Raketen aus sowjetischer Produktion. Dies verdeutlicht, daß Israel erstmals an gewisse Grenzen seiner militärischen Macht gestoßen war.

Für Ägypten und Syrien stellte das Ergebnis einen gewissen psychologischen Erfolg dar, da sie sich anfänglich den Israelis als ebenbürtig erwiesen hatten und deren Truppen somit ihre Ehre nach dem Sechstagekrieg zumindest teilweise wiederhergestellt sahen. Im Militärmuseum in Kairo wird beispielsweise anhand ägyptischer Waffen der Jom-Kippur-Krieg den Besuchern bis heute als arabischer Erfolg verkauft. Das politische Selbstbewußtsein in der arabischen Welt nahm also trotz eines letztlich militärischen Nichterfolgs zu, was auch eine nicht unerhebliche Voraussetzung für die späteren Friedensverhandlungen mit Ägypten sein sollte. Erste konkrete Maßnahmen waren zunächst verschiedene Truppenentflechtungsabkommen mit Syrien und Ägypten sowie die Einrichtung von UN-Pufferzonen auf dem Si-nai und den Golanhöhen. Der israelisch-ägyptische Friedensvertrag, der fünfeinhalb Jahre nach dem Krieg folgte, normalisierte dann die Beziehungen zwischen beiden Staaten. Mit dem Camp-David-Abkommen 1978 und der Unterzeichnung des Israelisch-ägyptischen Friedensvertrages 1979 erkannte zum ersten Mal ein arabischer Staat Israel an. Bis 1982 erfolgte darauf die Rückgabe des Sinais an Ägypten. Damit hatte Sadat – wenn auch verspätet – ein Kriegsziel auf politischem Wege doch noch erreicht.