© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/23 / 06. Oktober 2023

Krieg und Exodus im Kleinen Kaukasus
Wo endet das Abendland?
David Engels

Die Armenienfrage hat wieder einmal traurige Bedeutung erhalten: Die Kapitulation Bergkarabachs vor den Truppen Aserbaidschans hat, zumindest für kurze Zeit, die Lage der christlichen Bevölkerung im Südkaukasus erneut in die abendlichen Nachrichten gebracht. Nichts am dortigen Konflikt ist so einfach, wie die Medien es suggerieren. Christentum gegen Islam? Rußland gegen USA? Völkerrecht gegen Erdöl? Abendland gegen Türkei? Keiner dieser Erklärungsversuche ist ganz falsch, doch lassen sie sich nicht zu einem Schwarz-Weiß-Bild addieren. Zentral ist nämlich eine ganz andere Frage: Was ist überhaupt das Abendland, das wir verteidigen wollen oder sollen?

Ein Blick in die Geschichte. Im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. wanderten indoeuropäische Stämme aus West-Anatolien nach Osten und verbanden sich mit der einheimischen Bevölkerung der Gegend zwischen den Seen Van, Sevan und Urmia. Nachdem sich hier mit dem Staat Urartu bereits ein mächtiges Reich herausgebildet hatte, fiel Armenien an die Perser, die im 6. Jahrhundert den ganzen Nahen und Mittleren Osten vereinten. Der Eroberungszug Alexanders des Großen hatte Armenien ausgelassen, und so machte das Gebiet sich unter einheimischen Herrschern selbständig, wurde aber unter dem Einfluß der Seleukiden, den bedeutendsten Nachfolgern Alexanders, stark hellenisiert. Im 2. Jahrhundert folgte die erste echte Reichsgründung Armeniens, das rasch zu einem wichtigen politischen Faktor wurde: Unter dem heute immer noch von den Armeniern gefeierten König Tigranes II. (95–55) erstreckt sich der armenische Staat von Judäa bis ans Kaspische Meer, und selbst die Griechenstädte Syriens stellten sich unter die Oberaufsicht des Königs. Das überdehnte Großreich zerfiel freilich rasch beim Herannahen der Römer unter Pompeius, schrumpfte auf seinen Grundbestand und wurde zu einer zwischen Rom und seinem iranischen Nachbarn – zuerst den Arsakiden, dann den Sassaniden – umstrittenen Pufferzone.

Armenien bewies in dieser Zeit trotz vielfältiger Umsiedlungs- und Assimilationsversuche eine beeindruckende kulturelle Widerständigkeit. Wichtigster Vektor hierfür wurde die Übernahme des Christentums durch König Tiridates IV., einem Zeitgenossen Konstantins des Großen, der Armenien zum ersten christlichen Staat der Geschichte machte, wenn das Land sich auch dem Konzil von Chalcedon 451 verweigerte und bis heute dem monophysitischen Glauben anhängt – dazu später mehr. Um die Wende zum 5. Jahrhundert kam es auch zur Schaffung des bis heute gebräuchlichen armenischen Alphabets durch den Mönch Mesrop und die Entstehung einer reichen Literatur; der zweite wichtige Vektor für die kulturelle Resilienz des Landes, das sich in der Folge mit zahlreichen Kirchen und Klöstern bedeckte.

Solche Kräfte waren bitter nötig, denn im 7. Jahrhundert geriet der Nahe Osten in den Bannkreis des Islams: Ein großer Teil Armeniens wurde seit 653 zum Vasallen des Kalifen, während viele Armenier es vorzogen, in das Byzantinische Reich zu übersiedeln, wo sie als Grenzwache und am Hof große Bedeutung erlangten. Aus der ebenso zerrissenen wie heroischen Geschichte Armeniens in der Folgezeit ist zweierlei zu erwähnen: die zunehmende Islamisierung des Südkaukasusraums, aus dem nur Georgien und Armenien als christliche Inseln hervorragten, und die ethnisch-kulturellen Umwälzungen, die durch die Einwanderung der Turkvölker bewirkt wurden. Als der Nahe Osten nach der Errichtung des Osmanischen Reichs im Westen und des iranischen Safawidenreiches im Osten eine neue Stabilisierung erfuhr, wurde Armenien wieder zum Niemandsland zwischen zwei mächtigen Nachbarn – diesmal aber unter den schwierigen Voraussetzungen des Zusammenlebens mit einem osmanisch und sunnitisch dominierten, aber iranischsprachigen Kurdistan im Westen und einem safawidisch und schiitisch beherrschten, aber turksprachigen Aserbaidschan im Osten.

Verständlich, daß Armenien wie Georgien seine Hoffnung auf den Zaren setzte, der seit dem 17. Jahrhundert Präsenz im Kaukasusraum zeigte und als Befreier der orthodoxen Christen galt. Im frühen 19. Jh. gelangte der iranisch dominierte Teil Armeniens ans Russische Reich; der osmanische aber wurde aufgrund seines Irredentismus zum Ziel schrecklicher Genozide, denen 1894 eine Viertelmillion und 1915/16 über eine Million Menschen zum Opfer fielen – bis heute Grund für die bittere armenisch-türkische Feindschaft. Im Friedensvertrag von Sèvres wurde 1920 auf den Trümmern des Osmanenreichs eine armenische Republik gegründet, die allerdings nach wenigen Monaten zwischen den Bolschewiki und Atatürk aufgeteilt wurde: Die westlichen Armenier wurden von den Türken weitgehend assimiliert, wenn ihnen nicht die Flucht nach Europa und die USA gelang; der Osten wurde zu einer Sowjetrepublik umgestaltet.

Die UdSSR ordnete dabei getreu dem Prinzip „Teile und herrsche“ den Südkaukasus gravierend um: Indem das armenisch besiedelte Bergkarabach zu einer autonomen Enklave innerhalb der Sowjetrepublik Aserbaidschan wurde, während man das südlich von Armenien gelegene Nachitschewan Aserbaidschan zuschlug, entstand eine unhaltbare Situation, da beide Staaten nach Korridoren zu ihren Exklaven streben. Kein Wunder, daß es noch vor Auflösung der UdSSR zum Ausbruch eines regelrechten Kriegs zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach kam, das 1991 für den Anschluß an Armenien optierte. Seit 1994 und der Besetzung großer Teile Aserbaidschans durch Armenien herrschte ein unsicherer Waffenstillstand, der erst 2020 durch eine aserbaidschanische Offensive gebrochen wurde, an deren Ende die Rückeroberung der besetzten Gebiete stand – bis auf einen winzigen Korridor, der Armenien mit Bergkarabach verband und von russischen Friedenssoldaten bewacht werden sollte.

Seitdem kam es regelmäßig zu Scharmützeln, Grenzverletzungen, der Zerstörung armenischen Kulturguts und schließlich, seit Rußland sich aufgrund des Ukrainekriegs weitgehend zurückgezogen hat, der Unterbrechung des Korridors: Die Kapitulation Bergkarabachs vor wenigen Tagen und der Exodus großer Teile seiner Bevölkerung wurden unausweichlich. Doch nicht nur das: Präsident Erdoğan unterstützt nun die Forderung Aserbaidschans nach einem Korridor quer durch armenisches Territorium zur Verbindung mit Nachitschewan – eine Landverbindung, die auch die Errichtung einer Pipeline von Baku bis in die Türkei ermöglichen könnte.

Der Verweis auf Rußland, die Türkei und Pipelines öffnet die Frage nach dem weiteren Kontext. Denn es handelt sich bei diesem Konflikt nicht nur um die Frucht einer jahrhundertealten, unentwirrbar verflochtenen ethnischen Gemengelage, die in Anbetracht der tiefverwurzelten Rivalität aller Beteiligten kaum durch friedliche Föderalisierung gelöst werden kann. Armenien liegt auch auf einer empfindlichen Bruchlinie widersprüchlicher weltpolitischer Interessen. Denn das Land hat sein politisches Überleben der Unterstützung durch Rußland und Iran anvertraut, den klassischen Gegnern des türkischen Drangs nach Baku und Astana. Die Türkei hingegen ist seit langem Nato-Mitglied und Brückenkopf des Westens im Nahen Osten, während das öl- und gasreiche Aserbaidschan in Anbetracht der gekappten Verbindung zu Rußland zunehmendes Gewicht für die Versorgung der EU hat. Rußland und Iran wiederum verfolgen mit China eine eurasische Zielsetzung, die nicht nur die maritime Strategie der USA zur Sicherung der eigenen Hegemonie zu neutralisieren droht, sondern aufgrund ihres offen propagierten Autoritarismus auch dem (zunehmend löchrig wirkenden) Anspruch des Westens auf Förderung liberaler Demokratien zuwiderläuft. Zwar sind die diplomatischen Fronten angesichts der Eigenwilligkeit der Türkei und ihres Flirts mit Rußland im Fluß. Armenien befindet sich aber – noch – im „falschen Lager“.

Gerade für konservative Europäer ist dies insoweit schmerzlich, als der nun auch mitten in Europa ausgetragene Konflikt zwischen Islam und Christentum instinktive Sympathien für den ebenso kleinen wie uralten Staat weckt, der überall von mächtigen muslimischen Gegenspielern umgeben ist. Doch Armenien gegen die Türkei und Aserbaidschan verteidigen und sich somit in das „Great Game“ zwischen den USA und Rußland einmischen ginge nur im Rahmen eines völlig neuen energie- und bündnispolitischen Konzepts sowie einer klar auf die eigenen strategischen wie identitären Interessen ausgerichteten europäischen Außenpolitik – ein Wunsch, dessen Erfüllung in Anbetracht der vielen Verirrungen der EU in weiter Ferne steht. Und welche Identität? Wenn eine künftige EU sich im Rahmen der multipolaren Weltordnung nicht mehr primär über universale Menschenrechte definiert, sondern über ihre distinkte abendländische Identität, ist diese dann synonym mit der ganzen „Christenheit“? Ganz sicher nicht, denn mittlerweile sind nicht nur große Teile der „Neuen Welt“ christlich, sondern eben auch zahlreiche Staaten des subsaharischen Afrikas – ganz zu schweigen von den vielen ostasiatischen Christen.

Aber sollte nicht wenigstens Armenien zum „christlichen Abendland“ gezählt werden? Nicht unbedingt. Armenien ist zwar ein uraltes christliches Land, zählt aber zur orthodoxen Welt, die in vielen Punkten psychologisch scharf vom westlichen Christentum geschieden ist. Und selbst hier ist Armenien eine Ausnahme, da es dem ansonsten vor allem in Ägypten, Syrien und Äthiopien vertretenen Monophysitismus angehört, der den Akzent auf die rein göttliche Natur Jesu legt und seinen menschlichen Teil als völlig sekundär ansieht – eine fundamentale theologische Frage, die nur für den bedeutungslos scheint, für den „das“ Christentum nur noch kulturelle, nicht aber seelische Bedeutung hat. Nun verpflichten uns der geteilte Glaube und die geteilten historischen Wurzeln fraglos zur tätigen Solidarität mit Armenien – und schon aus strategischem Interesse wäre es zu befürworten, der türkischen Expansion in den Kaukasus und nach Zentralasien einen Riegel vorzuschieben. Armenien aber als Teil der abendländischen Kulturgemeinschaft zu betrachten und hieraus eine prinzipielle Unterstützungspflicht abzuleiten, würde zu weit gehen und nur dann haltbar sein, wenn man diesen Anspruch auch auf die syrischen, koptischen oder ostafrikanischen Christen ausdehnt – mit allen Konsequenzen.

Freilich: Es ist nur allzu richtig, auf den Kontrast zwischen der angeblich „wertebasierten“ westlichen Außenpolitik und ihrem faktischen Zynismus zu verweisen. Doch wenn man dagegen eine auf kultureller Solidarität basierende Außenpolitik vertreten möchte, sollte man sich erst damit auseinandersetzen, wo die Überschneidungen, aber auch die Trennlinien zwischen Abendland, Europa, Westen und Christenheit verlaufen, da eine naive Gleichsetzung in schwere Fehler münden kann. Und man sollte nie vergessen, daß die Gesetze der „civitas terrena“, des wirklich exisiterenden Gemeinwesens, andere sind als die der „civitas caelestis“, des jenseitigen Gottesstaats, wie bereits der heilige Augustinus wußte: Wer sich ernstlich auf Politik einlassen will, muß wissen, daß er sich selbst bei den hehrsten Absichten die Finger schmutzig machen wird und bestenfalls Schadensbegrenzung betreiben kann.






Prof. Dr. David Engels, Jahrgang 1979, ist Professor für Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Posener West-Institut (Institut Zachodni). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Russophilie deutscher Konservativer („Keinen Illusionen hingeben“, JF 10/22).