Eine Gesellschaft angesichts einer vernichtenden Katastrophe bildet den Rahmen für Eugen Ruges Roman „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“. Daß die Katastrophe tatsächlich eintreffen wird, ist für die Bewohner der Stadt noch ungewiß, dementsprechend finden sich unter ihnen sowohl Ignoranten und Hysteriker wie auch Pragmatiker. Denn es stellt sich die Frage: Wie verhält man sich angesichts einer Gefahr, die manche für möglich oder gar wahrscheinlich, andere für völlig absurd halten? Maßgeblich für die unterschiedliche Einschätzung der Situation sind nicht zuletzt die jeweiligen Interessen – und so entspinnt sich ein munteres Kammerspiel mit Figuren aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Religion.
Erzählt wird die Geschichte von Jowna, genannt Josse. Der Sohn bettelarmer Zuwanderer ist intelligent und von rascher Auffassungsgabe, wächst jedoch ohne Werte vermittelnde Vorbilder oder einem belastbaren kulturellen Hintergrund auf. Dennoch gelingt ihm ein rasanter Aufstieg, als dessen Startpunkt sich der Vogelschutzverein erweist; eine Gruppe von Oppositionellen unterschiedlichster philosophisch-theoretischer Weltanschauungen, die sich regelmäßig zu ausschweifenden Debatten trifft.
Hier hört Josse zufällig den Vortrag eines griechischen Bergbauingenieurs: In der fruchtbaren Landschaft rund um das Somma-Gebirge bei Pompeji waren zuletzt zahlreiche Vögel, Wildschweine, selbst Wanderer gefunden worden, die ihr Leben ohne ersichtlichen äußeren Einfluß ausgehaucht hatten. Seinen Nachforschungen zufolge rühre dies, so der Vortragende, von giftigen Schwefeldämpfen. Pompeji liege, so seine Schlußfolgerung, in unmittelbarer Nähe eines aktiven Vulkans. In einer ersten, noch ungelenken Rede bringt Josse nun die Tatsachen auf den Punkt: Wenn der Berg sich nicht bewege, dann müssen es eben die Stadtbewohner tun.
Der Auftritt von Plinius dem Älteren trägt parodistische Züge
Diese unverbildete Analyse der Realität, geboren aus gesundem Menschenverstand, führt zu Josses erstem Karriereschritt: Er wird Anführer einer neuen Bewegung, des noch inoffiziellen Vulkanvereins, der sich als basisdemokratische Kommune in sicherer Entfernung von Vulkan und Stadt in einer Bucht an der Felsenküste niederläßt. Doch das Projekt der Aussteiger weckt Begehrlichkeiten. Rasch erbietet sich ein Bauunternehmer, auch er ein Neu-Pompejianer, der Kommune seine Kenntnisse und Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und weiß Josse durch allerlei sinnenfreudige Argumente wie Festgelage und Bereitstellung sexueller Dienste von einer für beide einträglichen Zusammenarbeit zu überzeugen. Was wiederum das Establishment zu verhindern sucht: Livia Numistria, mächtigste Grundbesitzerin der Stadt, hatte bereits ihren Ehemann Flavius Rufus in den Magistrat gehoben. Nun findet sie in Josse neues Potential, um ihre Macht zu sichern. So wird der frühere Herumtreiber von immer mächtigeren Kräften der Stadtgesellschaft umworben und wechselt von einem Lager ins nächste – durchaus gewinnbringend, was seine finanzielle Lage, sein soziales Ansehen sowie seine erotischen Beziehungen anbelangt.
Livia befördert den durchaus attraktiven Josse nicht nur in ihr Bett, sondern auch zum großen Rhetoriker Protagoras – was dem Leser zu einem höchst interessanten wie amüsanten Crashkurs in der Kunst der Rede verhilft. Hatte Josse die Menschen eben noch zur Stadtflucht aufgerufen, muß er nun auf Livias Geheiß dafür sorgen, daß sie bleiben. Doch: „Wie kehrt man um, ohne zu wenden? Wie übt man Verrat, ohne ein Verräter zu sein?“, fragt sich Josse und lernt, daß die politische Wahrheit keine Frage von Fakten und Beweisen, sondern von glaubhaft erzeugtem Vertrauen ist.
Gilt dies auch für die Wissenschaft? Parodistische Züge trägt der Auftritt von Plinius dem Älteren, dem Präfekten der römischen Flotte im nahen Misenum. Die historische Gestalt faßte das gesamte Wissen seiner Zeit in einer 37 Bände umfassenden Naturgeschichte zusammen – durch sein überbordendes Körpervolumen nahezu unbeweglich in seinem Lehnstuhl verankert. Ein Vulkan bei Pompeji? Unmöglich! Auch des Gelehrten Kenntnisse über Vulkane sind umfassend, basieren jedoch, das macht sich am Ende auf todbringende Weise bemerkbar, auf reinen Theoremen: Plinius wird zum berühmtesten Zeitzeugen der Naturkatastrophe, deren Beschreibung er aufgrund seines Ablebens im Ascheregen jedoch seinem Erben Plinius dem Jüngeren überlassen mußte.
Wo die Wissenschaftler, hier vertreten durch den aufgrund seiner Naturbeobachtungen warnenden Bergbauingenieur und dem theorielastigen, dafür beschwichtigenden Plinius, sich nicht einig sind, wird gern Sicherheit in der Religion gesucht. Das machen sich die wirtschaftlichen Kräfte Pompejis, allen voran Livia, zunutze: Unter ihrer Regie wird Josse zum Magistratskandidaten gekürt und ein offizieller Vulkanverein gegründet – nun natürlich innerhalb der Stadt. Denn diese gelte es zu schützen, und zwar durch ein opulentes Opferfest zu Ehren des Vulcanus. Der glutheiße Gott soll besänftigt werden: Geopfert wird ein mächtiger Stier, aus dessen Eingeweiden Augur Lucretius die Zukunft deutet. Das Ergebnis wurde, wen wird es wundern, bereits im Vorfeld mit der Auftraggeberin Livia abgesprochen – nicht zum Schaden des Priesters.
Allein, die Natur läßt sich nicht betrügen, respektive läßt sie sich im Gegensatz zum Menschen nicht korrumpieren. Und so geht kurz nach der positiven Weissagung im Jahr 79 n. Chr. die römische Stadt Pompeji unter in einem verheerenden Strom aus Feuer und Asche.
Grundsätzliche Fragen nach der Verfaßtheit unserer Gesellschaft
Historische Themen sind dem Autor Eugen Ruge, der bis zu seiner Flucht in den Westen Anfang 1989 als Mathematiker und Erdbebenforscher an der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeitete, vertraut: Für „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, eine Familienchronik aus der untergehenden SED-Diktatur, erhielt er 2011 den Deutschen Buchpreis. Auch sein brillantes Buch „Metropol“, in dem er den stalinistischen Terror in der Sowjet-union erlebbar macht, basiert auf familiären Begebenheiten (JF 12/20). Diese Auseinandersetzungen schulten den Blick des Autors auch auf gegenwärtige Fragen, wie er bereits in „Follower“, seinem satirisch-dystopischen Zukunftsroman über die totale digitale Vernetzung zugunsten von Großkonzernen, bewies.
Nun füllt Ruge die leeren Räume Pompejis mit höchst aktuellem Leben: Wie schon in seinen früheren Romanen zeigt der Autor auch hier das Talent, seine Figuren zu präsenten Individuen werden zu lassen. Ebenso zeugen die Vorgänge und Interaktionen, in denen sich das Romanpersonal durch die Geschichte bewegt, von einer unverblendeten Beobachtungsgabe. Es ist verlockend, den drohenden Vulkanausbruch mit dem Klimawandel oder den unproduktiven Debattierclub des Vogelschutzvereins (nur) mit den „Grünen“ gleichzusetzen. Doch es wäre zu kurz gegriffen. Vielmehr stellt der Autor überaus einsichtig und humorvoll grundsätzliche Fragen nach der Verfaßtheit unserer Gesellschaft und zeigt dabei auf, in welchem Maße vermeintliche Erkenntnisse von Interessen gesteuert werden. Oder um es mit dem rhetorisch geschulten Josse zu sagen: „Wissenschaft bedeutet, daß man sich nicht von seinen Wünschen, aber auch nicht von seinen Ängsten leiten läßt. Sollen wir ein Werk der Zerstörung vollbringen, bevor die Natur es vollbringt?“ Gerade mit der Figur des Josse ist Ruge die Darstellung eines Prototyps für Verführbarkeit gelungen: Der intelligente und attraktive junge Mann ist kein Manipulator, hierfür fehlen ihm eigene, grundlegende Ziele. Vielmehr ist er eine Art von eher naivem Influencer, der selbst zum Werkzeug der Bestrebungen weit geschickterer Kräfte wird.
In unserer heutigen Zeit, in der wissenschaftliche Modellrechnungen immer wieder vor neuen Katastrophen warnen – sei es durch eine weltweit ausgerufene Pandemie, sei es durch die Folgen eines „menschengemachten“ Klimawandels –, nutzt Eugen Ruge den Untergang der Stadt Pompeji als Modellsatz, um die unterschiedlichsten politischen wie philosophischen Strömungen, Macht- wie Kapitalinteressen und nicht zuletzt erotische Verwicklungen aufeinanderprallen zu lassen. Parallelen zu und Versatzstücke aus unserer Gegenwart sind dabei bewußt eingesetzt – mit einiger Intelligenz und sehr zum Vergnügen des Lesers.
Am 27. Oktober stellt Eugen Ruge seinen „Pom-peji“-Roman in der Stadtbibliothek in Bielefeld vor. Im November folgen weitere Auftritte in Schwerin, Saßnitz, Kronberg im Taunus, Kirchzarten, Halle (Saale) und Dresden.
Eugen Ruge: Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna. Roman. dtv, München 2023, gebunden, 368 Seiten, 25 Euro