© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/23 / 06. Oktober 2023

Fünfhundert Jahre Lügen
Kino I: Verschwörungstheoretiker können auch richtigliegen. Das beweist der Film „The Lost King“ über die Gebeine Richards III.
Dietmar Mehrens

Stellen Sie sich vor, Sie werden nach der Lektüre eines Stapels historischer Fachbücher und Gesprächen mit einer Gruppe exzentrischer Monarchisten von der unbezähmbaren Intuition gemartert, daß unter dem Parkplatz des Sozialamtes Ihrer Kreisstadt die sterblichen Überreste eines verschollenen deutschen Kaisers liegen. Und jetzt versuchen Sie Geld, Experten und politische Entscheider dafür aufzutreiben, daß der Parkplatz aufgebuddelt wird. Wofür würden die Behörden Sie erklären? Genau: für etwas verschroben. Und das ist noch die mildeste Variante.

In „The Lost King“, dem neuen Film von Stephen Frears, verkörpert Sally Hawkins die etwas verhaltens-auffällige Philippa Langley. Denn die Frau hat Probleme. Das wird ihr bei der Arbeit und auch von ihrem Mann John (Steve Coogan), von dem sie geschieden ist, immer wieder mal vorgehalten. Die Verkäuferin leidet unter Myalgischer Enzephalomyelitis (ME), besser bekannt als Chronisches Fatigue-Syndrom.

Die Hobby-Achäologin trotzt Skepsis und Snobismus 

Und nun sieht die 45jährige nach einem Theaterbesuch zwar keine Gespenster, aber dafür Könige. Genaugenommen handelt es sich immer um denselben König, und zwar ausgerechnet um den verfemten Richard III. (Harry Lloyd). Sie wissen schon: „Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!“ Mit diesen Worten charakterisierte William Shakespeare den Monarchen im Moment seiner größten Not: der für ihn tragisch ausgehenden Schlacht von Bosworth. Shakespeare folgte mit seiner höchst negativen Darstellung des Königs, des letzten Herrschers aus dem Haus Plantagenet, ehe die Dynastie der Tudors das Zepter übernahm, einer damals üblichen Erzählung. Dieser zufolge handelte es sich bei dem König aus dem Hause York um einen innerlich wie äußerlich verunstalteten Schurken, einen Mann ohne Moral, einen Thronräuber, der aus Machtgier seine beiden Neffen umbringen ließ.

Doch der derart Diffamierte hat auch Anhänger, bis heute. Zusammengefunden haben sich einige von ihnen in der Richard III. Society. Dort vertritt man die Ansicht: „Man muß eine Lüge nur oft genug wiederholen, damit die Leute sie glauben.“ Was traditionell über Richard III. gelehrt wird, sind für sie 500 Jahre Lügen und Fälschungen. Und genau mit dieser Truppe von – soll man sie wirklich so nennen? – Verschwörungstheoretikern, von Menschen also, die glauben, daß alles in Wahrheit ganz anders war, als alle annehmen, daß sie besagte Wahrheit kennen und die anderen alle irren, mit diesen dubiosen Gestalten sucht Philippa nun den Schulterschluß und rennt hier mit ihrem Richard-Revisionismus natürlich offene Türen ein.

Die Mitglieder der Gesellschaft helfen ihr, über das Internet („crowdfunding“) Forschungsgelder einzusammeln. Wider allen Spott, etwa seitens ihres Ex-Mannes John (dem sie durch ihren Richard-Tick aber trotzdem wieder näherkommt), vertraut sie ihrer weiblichen Intuition, recherchiert verbissen weiter und ist sich schließlich sicher: Des Königs sterbliche Überreste wurden nicht, wie es die Legende will, in den Fluß geworfen, sie liegen irgendwo im Stadtgebiet von Leicester unter der Erde. Durch eine glückliche Fügung schafft es Philippa, einen Gesprächstermin bei dem renommierten Archäologen Richard Buckley (Mark Addy) zu bekommen, der gerade von der Universität Leicester an der langen Leine gehalten wird. Da kommen die unorthodox eingeworbenen Drittmittel, mit denen Philippa ihn ködern kann, gerade recht. Als die Hobby-Archäologin das Projekt vor Geladenen der Universität und der Stadt vorstellt, hat sie erneut Skepsis und Snobismus zu trotzen. Aber ganz gewiß käme ihre Geschichte jetzt nicht als abendfüllender Spielfilm in die Kinos, wenn Philippas irre Idee sich nicht am Ende als alles andere als irre erwiesen hätte.

Stephen Frears hat bereits mit „Die Queen“ (2006) und dem Porträt der talentlosesten prominenten Ariensängerin der Operngeschichte, „Florence Foster Jenkins“ (2016), sein Gespür für die kinotaugliche Umsetzung authentischer Stoffe unter Beweis gestellt. Daß er Richard III. in dieser ansonsten sehr realistisch inszenierten Geschichte als Phantom auftreten läßt, kostet seinen neuen Film zwar Seriosität; aber die wahren Begebenheiten, die „The Lost King“ zugrunde liegen, sind so spektakulär und spannend, daß man darüber hinwegsehen kann. Gern nimmt der Zuschauer an der Seite der famosen Sally Hawkins deren Fährte in die Vergangenheit auf.