Die Hervorbringung von guten Nachrichten gehört nicht eben zum Markenkern Berlins. Vergangene Woche überraschte die Staatsoper Unter den Linden dann doch mit einer: Christian Thielemann wird 2024 als neuer Generalmusikdirektor (GMD) die Nachfolge Daniel Barenboims antreten. Übernähme Pep Guardiola die Hertha – die achtbare Lindenoper möge den Vergleich mit dieser Gurkentruppe verzeihen –, hätten die Reaktionen kaum positiver ausfallen können.
In den Medienkommentaren herrschte größtenteils eitel Sonnenschein. Das war überraschend. Der Dirigent, der lieber Kapellmeister genannt werden möchte („Dirigent klingt ja wie Ministerialdirigent“), steht für das, was die Musikwelt als „deutschen Klang“ liebt. Er hat ein Faible für die alten Preußen, macht am liebsten in den Masuren Urlaub und ist seit Jahrzehnten als konservativ, traditionsfixiert, unmodern, also irgendwie problematisch „gelabelt“.
Triumph künstlerischer Kriterien über politisch-ideologische
Im Oktober vergangenen Jahres hatte die Berliner Zeitung ihren Lesern noch erklärt, daß Thielemann, obwohl ihn Publikum und Kritik gerade wegen seines „Ring“-Dirigats an der Lindenoper hochleben ließen, nicht der richtige Kapellmeister für dieses Haus wäre. Das habe nichts mit seinen „Leistungen und Limitierungen“ zu tun, sondern es lägen „andere, gewichtige Gründe“ gegen ihn vor: „Thielemann hat überhaupt keine Neigung, über den Tellerrand des Betriebes hinauszuschauen. Er fragt nicht nach der gesellschaftlichen Relevanz von Oper und Konzert, er interessiert sich nicht für Formate jenseits des zweistündigen Konzerts, seine Vorliebe für das deutsche Repertoire des 19. Jahrhunderts ist berüchtigt, Uraufführungen werden vermieden, so weit es irgend geht.“
Als Berlin noch „Hauptstadt der DDR“ hieß und die Berliner Zeitung „Organ der Bezirksleitung der SED“, hätten sie es kürzer formuliert, ungefähr: „Er ist ein sehr guter Dirigent, aber leider kein Genosse!“
Mit ähnlichem Zungenschlag begründete die sächsische Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU) die Nichtverlängerung von Thielemanns Vertrag an der Dresdner Semperoper. Sie sprach von „neuen Publikumsschichten“, die erschlossen, sowie „neuen Wegen zwischen tradierten Opern- und Konzertaufführungen und zeitgemäßer Interpretation von Musiktheater und konzertanter Kunst“, die beschritten werden müßten. Wagners Dresdner „Wunderharfe“ mit ihrem von Thielemann favorisierten traditionssatten Klang wird diesen leicht abschüssigen Weg in die Neomanie ohne den Maestro gehen.
Wenn heute noch weit linkere Berliner Kulturpolitiker Thielemann an das führende Opernhaus der Hauptstadt berufen und alle Medienwelt das großartig oder zumindest völlig plausibel findet, wirft sich die Frage auf: Dreht sich hier der Zeitgeist? Daß der Kapellmeister zu den Großen der Zunft gehört, steht allgemein außer Frage, aber für die Dresdner Entscheidung spielte gerade das keine Rolle. Thielemanns Berufung nach Berlin ist ein Triumph der künstlerischen Kriterien über politisch-ideologische.
Die wirklich wichtige Frage lautet also: Wie gut ist Thielemann? Der 64jährige gilt als der legitime Erbe der großen deutschen Kapellmeistertradition und im spätromantischen Repertoire als nahezu konkurrenzlos. Die Wiener Philharmoniker lieben ihn (und er sie), aber die beschäftigen keinen Chefdirigenten. Aus seiner Vorliebe für die Werke von Wagner, Strauss und Bruckner resultiert der erwähnte Vorwurf der Limitiertheit. Ein Blick auf seine Diskographie beweist, daß das nicht stimmt: Mozart und Beethoven sind ebenso dabei wie – das ist für den GMD einer Oper nicht unwesentlich – Verdi, Puccini und Mascagni; außerdem Reger, Busoni, Orff, Schönberg und Hans Werner Henze. Mahler ließ er lange links liegen, inzwischen dirigiert er ihn auch. Arnold Schönbergs sinfonische Dichtung „Pelleas und Melisande“ nannte er den „Über-Tristan“. Gewiß, das ist früher Schönberg, also späteste Spätromantik, doch redet so ein „Antimodernist“?
Er sei nicht der Typus Kapellmeister, der heute „Don Giovanni“, morgen Mahlers Zweite, übermorgen Verdi dirigiere, also routiniert abliefere, sagt Thielemann. „Wenn Leute zu gut funktionieren, erreichen sie nicht das Niveau, das ich mir vorstelle.“ Er will das Außergewöhnliche, und das ist automatisch limitiert. Hat man nicht auch Carlos Kleiber vorgeworfen, sein Repertoire sei zu schmal?
Wer sich mit Musikern über Thielemann unterhält, stößt auf allgemeine Hochachtung. Hemdsärmelig, zupackend, ohne Umschweife zur Sache kommend, bringe er stets eine äußerst präzise Vorstellung mit, wie das einzustudierende Opus am Ende klingen muß. Thielemann besitze eine natürliche Autorität; er schreie nicht, fuchtele nicht herum, aber er sei auch niemals der Kumpel des Orchesters. Sein musikalisches Wissen sei überwältigend. Bei den „Monsterwerken“ der Spätromantik besitze sein Dirigat „einen unglaublichen Zug, da zerfällt nichts“, rühmt ein Cellist, der unter ihm gespielt hat. „Für mich ist er der größte lebende Dirigent.“
„Ich halte ihn für den besten Wagner- und Strauss-Dirigenten“, sekundiert ein Pultkollege. Thielemanns Berliner „Ring“ sei die fesselndste Live-Aufführung von Wagners Tetralogie gewesen, die er je gehört habe. Und was kann er nicht? „Alles vor 1840.“ Im russischen Repertoire kenne sich Thielemann nicht aus, sagt ein anderer Dirigentenkollege; allerdings sei er im italienischen Fach – anders als man öfter zu hören bekomme – überaus versiert. Immerhin war er als junger Mann Gastdirigent am Teatro Comunale di Bologna.
Viele Werke kennt er bis heute auswendig
Über den jungen Thielemann hat Placido Domingo eine aufschlußreiche Anekdote erzählt. Das Genie in spe arbeitete damals als Assistent Herbert von Karajans und Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin, wo er mit Domingo und anderen Sängern den „Parsifal“ einstudierte. Der junge Mann am Flügel war bestens im Bilde und verpaßte keinen Einsatz, bis der Tenor sich wunderte, daß er nie die Noten umblätterte. Auf dem Notenpult lag nämlich gar nicht der „Parsifal“, sondern „Adriana Lecouvreur“ von Francesco Cilea ...
Bis heute, heißt es, kenne Thielemann viele Werke auswendig. In den Proben kann er eine Ewigkeit auf den kleinen Noten herumreiten, denn „mit grobem Pinsel ist alles sinnlos“. Das gilt auch und speziell für die Werke Richard Wagners, diese riesigen musikalischen Aphorismensammlungen. „In Bayreuth hat man verstanden: Der Thielemann weiß es wirklich am besten“, versichert der erwähnte Pultkollege. Bei den Tempi findet er jedenfalls immer den goldenen Schnitt, er läßt Wagners Orchester schwelgen, aber die Sänger nie hängen. Es wird zelebriert, nicht geschleppt.
Bei der Vorstellung des neuen GMD erklärte der Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU), die Grundlage jedes Erfolgs sei höchste Qualität, und für die stehe Thielemann wie kein anderer. „An der Exzellenz“, faßte er durchaus berlinuntypisch zusammen, „dürfen wir nicht rütteln“. Er hätte auch lieber eine Frau genommen, am besten mit Migrationshintergrund. Doch im Gegensatz zu, sagen wir: Lohengrin, der sich durch dreimaliges Aufgerufenwerden endlich herbeibeschwören läßt, war wohl keine Maestra mit gleicher Eignung aufzutreiben.
Und nun freue dich, Berlin!
Foto: Kapellmeister Christian Thielemann (Archivfoto Neujahrskonzert 2019): Der noch in Diensten der Sächsischen Staatskapelle Dresden stehende Stardirigent tritt die Nachfolge von Daniel Barenboim an der Staatsoper Berlin an. Er wird das Amt dort am 1. September 2024 übernehmen. Thielemann war zuvor unter anderem künstlerischer Leiter der Münchner Philharmoniker, der Osterfestspiele in Salzburg und Musikdirektor der Bayreuther Festspiele. Er gilt als führender Interpret der Werke Richard Wagners. 2012 erschien sein Buch „Mein Leben mit Wagner“ (C. H. Beck)