© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/23 / 06. Oktober 2023

Tausend kleine Schritte
Syrien: Zwischen ausgebombten Ruinen und leerstehenden Luxushotels läuft ein langsamer, aber steter Wiederaufbau des Landes / Die westliche Sanktionspolitik gegen die Assad-Regierung schadet allen Beteiligten
Ludwig Witzani

Damaskus im September. In Syrien schweigen die Waffen. Abgesehen von einigen Randgebieten am Euphrat, an der türkischen Grenze oder im äußersten Süden kontrolliert das Assad-Regime das ganze Land. Die Infrastruktur ist notdürftig wiederhergestellt, in den Märkten wird gehandelt. Hotels und Restaurants haben wieder geöffnet, auch wenn sich nur gut Betuchte einen Besuch leisten können. Das Straßenbild in Damaskus, Aleppo oder Homs ähnelt dem einer beliebigen orientalischen Großstadt, wenngleich wegen des Treibstoffmangels erheblich weniger Verkehr herrscht. Zwar liegen noch immer ganze Bezirke vor allem zwischen Homs und Hama in Trümmern, doch das Land ist zu einer fragilen Normalität zurückgekehrt, in der sich neues Leben regt.

 Vom Ausland wird diese Entwicklung jedoch weitgehend ignoriert. Als befände man sich noch im Kriegsjahr 2015, heißt es in den Reisehinweisen des deutschen Außenministeriums apodiktisch: „Vor Reisen nach Syrien wird gewarnt. Alle Deutschen, die das Land noch nicht verlassen haben, werden zur Ausreise aus Syrien aufgefordert.“ Jeder Reisende, der in diesen Tagen das Land zwischen Damaskus und Aleppo, Latakia und Palmyra bereist, kann darüber nur den Kopf schütteln. Dschihadisten und Rebellen gibt es nur noch vereinzelt an den Landesgrenzen. Aber auch da ist es ruhig, die meisten Regimegegner haben sich in die Nachbarländer zurückgezogen, viele auch, so heißt es, unter falscher Identität nach Deutschland.

Aber auch im fragilen Frieden nach dem Bürgerkrieg ist das Leben für die einfachen Syrer hart genug. Das Land leidet schwer unter der Last der internationalen Sanktionen, die die reguläre Ein-fuhr von Medikamenten, Ersatzteilen und Öl nach Syrien verhindern.  Die Mindestversorgung der syrischen Wirtschaft mit lebensnotwenigen Rohstoffen und Gütern ist deswegen nur über Schwarzmärkte zu exorbitanten Preisen möglich. Das befeuert die Inflation, die mittlerweile völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Repräsentierte der wertvollste syrische Geldschein, die 5.000-Pfund-Note, vor dem Bürgerkrieg einen Wert von etwa zehn Euro, ist sie heute nur noch 30 Cent wert. Für den Kauf eines Kühlschrankes müßte der Syrer also mit einem ganzen Koffer voller Papiergeld bezahlen, vorausgesetzt, ein Kühlschrank befände sich überhaupt im Angebot.

Unter diesen Umständen ist der tägliche Erwerb von Treibstoff ein Glücksspiel. Zwar garantieren staatliche Benzingutscheine bedürftigen Syrern ein Benzinkontingent von 35 Litern pro Monat, doch da an den staatlichen Tankstellen nur selten Benzin vorhanden ist, müssen die Menschen ihren Treibstoff am Straßenrand von jugendlichen Schwarzmarkthändlern kaufen, die das Benzin gerne mit Wasser panschen oder bei den Volumenangaben betrügen. Das gesamte Transportsystem des Landes krankt an dieser mangelhaften Treibstoffversorgung. Überall verrotten ganze Lastwagenflotten mangels Treibstoffs auf den Abstellplätzen.

Von diesen Einschränkungen sind die einzelnen Bevölkerungsgruppen allerdings sehr unter-schiedlich betroffen. Präsident Baschar al Assad, sein Vetter Rami Machluf, der Herr der syrischen Telekommunikation und sein Bruder Maher Assad, der Chef der Elitetruppen, dürften von den Sanktionen wenig merken. Auch die Angehörigen von Armee und Sicherheitsdienst werden durch staatliche Sonderzahlungen vor der aktuellen Not bewahrt. Armee und Sicherheitsdienst sind in Syrien seit langem eine Domäne der Alawiten, weil sich die Franzosen schon in der Kolonialzeit auf die Alawiten im Kampf gegen die sunnitische Bevölkerungsmehrheit gestützt hatten.

Auch Hafiz al Assad, der Vater des heutigen Präsidenten, der sich im Jahre 1970 an die Macht putschte, entstammte der alawitischen Bevölkerungsminderheit. Aber das Assad-Regime stützt sich nicht nur auf die Gefolgschaft der Alawiten, sondern auch auf die Unterstützung religiöser Minderheiten wie Christen und Drusen. Nach anfänglichem Schwanken stehen sie inzwischen mehrheitlich auf seiten des Präsidenten – nicht weil sie sein autokratisches Regime rückhaltlos bejahen, sondern weil sie sein Regiment einer Herrschaft des Islamischen Staates oder der Al-Nusra-Front vorziehen.

Es ist für die christlichen Syrer, immerhin fast ein Fünftel der syrischen Bevölkerung, noch heute unbegreiflich, daß der Westen, wenigstens zeitweise und möglicherweise unbeabsichtigt, während der heißen Phase des syrischen Bürgerkrieges islamistischen Gruppen Waffen zukommen ließ, mit denen Christen massakriert wurden. Allerdings schreckten die islamistischen Terrorbrigaden, die sich überwiegend aus dem Ausland rekrutierten, auch vor Gemetzeln an ihren eigenen Glaubensbrüdern nicht zurück.

Assad profitiert von der Auswanderung seiner Bürger

Jenseits des herrschenden Clans, seiner Unterstützer, der Mitglieder des Machtapparates und der herrschenden Baath-Partei, schlagen sich Christen, Drusen und die Angehörigen der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit mehr schlecht als recht durch den syrischen Alltag. Vom kleinen Kind bis zum Greis ist jeder gezwungen, sich Tag für Tag mit jeder Art von Knochenarbeit seinen Lebensunterhalt zu sichern, ohne daß irgendwelche Rücklagen gebildet werden können. Es sind vorwiegend diese aufwendigen Mühen um die Erwirtschaftung 

kleinster Verdienste, denen die Städte ihre Lebendigkeit verdanken.

Von der Schuld des Assad-Regimes an diesen Zuständen, von der fortdauernden Diktatur und der möglichen Veruntreuung internationaler Hilfen zugunsten staatlicher Profiteure wird nicht offen gesprochen, dafür stehen die USA und die westlichen Mächte um so mehr in der Kritik. In der Sichtweise der einfachen Leute waren es die USA und ihre Verbündeten, die Waffen an die Rebellen geliefert haben und ohne die der Bürgerkrieg nicht so lange gedauert hätte.

Besonders empört der Umstand, daß die Amerikaner über ihre kurdischen Verbündeten noch immer die syrischen Ölquellen am Euphrat besetzt halten, was das Land seiner wichtigsten ökonomischen Ressourcen beraubt. Mit ins Bild gehört aber auch, daß Russen und Iraner, deren Einsatz die Herrschaft des Assad-Regimes letztlich gerettet hat, sich keiner besonderen Beliebtheit erfreuen. Auf großen Fahnenstangen flattert die iranische Nationalflagge über manchem Ort, als sei Syrien bereits eine iranische Provinz.

Kein Wunder, daß für viele junge Leute die Auswanderung nach Europa die letzte Hoffnung ist. Spricht man mit Einheimischen, hat praktisch jeder einen Freund oder Verwandten, der Syrien verlassen hat, um im Ausland sein Glück zu suchen. Unter ihnen mögen sich Oppositionelle oder Bürgerkriegskämpfer befinden, die vom Regime verfolgt werden – die überwiegende Mehrheit aber sind lupenreine Armutsflüchtlinge. Trotz aller Wiederaufbaurhetorik toleriert die Assad-Regierung diese Fluchtbewegung, weil sie davon profitiert. Denn die Syrer, die in Europa, vor allem in Deutschland, eine für ihre Verhältnisse unvorstellbar großzügige Unterstützung erhalten, senden einen Teil davon über Zwischenbanken nach Syrien, um ihre Familien zu unterstützen.

Aufgrund der dabei anfallenden extrem hohen Gebühren und ungünstigen staatlichen Umtausch-kurse verdient sich das Regime an den Milliardentransfers aus Europa eine goldene Nase. Auch eine der zahlreichen Paradoxien der deutschen Flüchtlingspolitik: Je mehr syrische Migranten Deutschland aufnimmt, desto mehr verdient das Assad-Regime an den Überweisungen aus Europa.

Trotz der Abwesenheit von Millionen Menschen außerhalb der Landesgrenzen und der negativen Effekte der Sanktionen geht der Wiederaufbau – wenngleich stockend – voran. Dabei kommt dem Land zugute, daß Syrien, abweichend von der internationalen Berichterstattung, bei weitem nicht in Gänze von den Zerstörungen des Bürgerkrieges betroffen ist. In Damaskus wurde nur im Nord-osten gekämpft, in Aleppo auch nur im Osten. Fast die gesamte Küste Syriens zwischen Latakia und Tarsus war vom Krieg verschont geblieben. Außerdem sind mittlerweile, medial kaum beachtet, Hunderttausende nach Syrien zurückgekehrt.

In den Märkten Aleppos, die einmal die beeindruckendsten des Nahen Ostens gewesen waren, sieht man, wie die Händler mit einfachsten Mitteln ihre zerstörten Verkaufsnischen wieder aufbauen. Ein älterer Händler, der dort schon seit einem halben Jahrhundert sein Geschäft führte und dessen Vater und Großvater das auch schon getan hatten, sitzt stolz vor seinem kleinen Laden inmitten der Ruinen und ist guten Mutes. Für die Zukunft erhofft er sich zweierlei, und zwar in dieser Reihenfolge: erstens Erlösung durch Gott und zweitens Frieden in Syrien.

Der Tourismus kommt langsam zurück

Wann sich dieser Frieden verfestigt, steht allerdings in den Sternen. Um Syrien eine dauerhafte Stabilität zu ermöglichen, müßten sich alle politischen Kräfte sowohl auf nationaler wie auf inter-nationaler Ebene an einen Tisch setzen – und zwar mit Assad. Nicht weil er ein lupenreiner Demokrat ist, sondern, weil eine Lösung ohne ihn und seinen Anhang im Moment nicht vorstellbar ist. Zwar ist ein erster Schritt mit der Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga vollzogen worden, doch der Westen sperrt sich weiter gegen ein Syrien unter Assad und setzte die Sanktionen, die wegen des syrischen Erdbebens kurzfristig ausgesetzt worden waren, wieder in Kraft.

Auf der Strecke bleiben die einfachen Syrer, die sich nach den blutigen Jahren des Krieges und des Mangels nach Sicherheit und einem Mindestmaß an Wohlstand sehnen. Unter der Fuchtel der Rus-sen und Iraner werden diese Ziele schwerlich erreichbar sein, und solange der Westen an seiner strikten Anti-Assad-Politik festhält, ist auch von dieser Seite keine Besserung zu erwarten. Zu stark differieren die Vorstellungen der Amerikaner und Russen, der Iraner und der Saudis, der Sunniten und Schiiten, der Türken und Kurden, des Regimes und der liberalen Opposition, als daß ein politischer Neuanfang möglich wäre.

So wird das Bild allenfalls von kleinen Fortschritten ein wenig aufgehellt. Das Nationalmuseum von Damaskus hat wieder geöffnet, die vom IS zerstörten Ruinen von Palmyra sollen wieder hergerich-tet werden, und inzwischen kommen sogar wieder die ersten westlichen Touristen ins Land. Marius Kaul, der einzige deutsche Reiseveranstalter, der seit 2022 wieder organisierte Studienreisen nach Syrien anbietet, schätzt, daß im vergangenen Jahr wieder einige tausend Amerikaner und Europäer Syrien besucht haben. Das ist wenig im Vergleich zu den sieben Millionen ausländischen Touristen vor dem Bürgerkrieg. Aber es ist eine Entwicklung, die Hoffnung macht.