Krieg, Krieg, Krieg. Droht ein neuer Krieg auf dem Balkan? Diese Frage hallte Ende September vermehrt durch die deutschen Medien. Damit folgten sie, wie so oft, vor allem den Meldungen der kosovarischen Albaner, die davor warnten, die serbische Armee würde „aus drei verschiedenen Richtungen“ auf den Kosovo vorrücken.
Ein Blick auf Äußerungen des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić läßt das alles weniger dramatisch erscheinen. Er hatte gegenüber der Financial Times versichert: „Serbien hätte davon keinen Nutzen, denn das würde seine Position in den Verhandlungen mit Priština unter der Schirmherrschaft der Europäischen Union schwächen.“
Dennoch gibt es Anlaß zur Sorge, denn eine Woche zuvor war es in dem serbischen Dorf Banjska, im Norden des Kosovo, zu einem Schußwechsel gekommen. Kosovarische Polizisten, die „dort eigentlich nichts zu suchen hatten“, wie der serbische Präsident später sagte, wollten eine Barrikade von zwei Lastwagen beseitigen. An sich ist das kein ungewöhnlicher Vorgang, denn in dem mehrheitlich von Serben bewohnten Gebiet kommt es öfter zu Protesten durch Blockaden.
Dieses Mal aber wurden die kosovarischen Polizisten – nach eigenen Angaben – von einem Kugelhagel empfangen, in dem der Polizeisergant Afrim Bunjaku getötet wurde. Auch drei der Angreifer, die sich später auf das Gelände eines nahegelegenen Klosters zurückgezogen hatten, kamen bei der Aktion ums Leben. Später wurde von den kosovarischen Behörden ein umfangreiches Waffenlager ausgehoben und mehrere Angreifer festgenommen.
Für die kosovarische Seite ist die Schuldfrage absolut eindeutig: Es handle sich um einen „terroristischen Angriff, finanziert vom offiziellen Belgrad“, sagte der kosovarische Premierminister Albin Kurti. Obwohl die bewaffneten Angreifer nachweislich serbischer Nationalität waren, stellt sich die Frage, wieso Belgrad das tun sollte. Denn Vučić will, daß sein Land wirtschaftlich mit der EU kooperiert, und hat daher kein Interesse an einem neuerlichen Konflikt.
Wie in den vorangegangenen Verhandlungen zwischen Vučić und Kurti war auch die Runde am 14.September ohne Ergebnis beendet worden. Obgleich die US- und EU-Vermittler diplomatisch beide Seiten in die Verantwortung nahmen, warf der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell dem Kosovo vor, die Rechtsstaatlichkeit durch „Enteignungen von Land im Norden des Kosovo, Räumungsbefehlen, Telekommunikation und den Einsatz von Spezialpolizeikräften für kommunale Aufgaben“ zu verletzen.
Kernpunkt der Verhandlungen zwischen Kosovo-Serben und Kosovo-Albanern ist seit Anbeginn die Gründung eines „Verbandes serbischer Gemeinden“, der den etwa 120.000 Serben im Kosovo weitreichende Autonomierechte gewähren soll. Die Bildung dieses Verbandes ist im Brüsseler Abkommen von beiden Seiten vereinbart worden. Die kosovarische Seite, namentlich der Premierminister Albin Kurti, sperrt sich aber konsequent, die Bildung dieses Verbandes zu realisieren.
Er ist seit Anbeginn seiner politischen Laufbahn gegen jede Minderung der Souveränität des 2008 ausgerufenen Staates Kosovo. „Dezentralisierung gleich Teilung gleich Krieg“ hatte er schon 2007 gesagt. Alle Versuche, den Kosovo-Serben gewisse Autonomierechte einzuräumen, wurden von Kurti und seiner Partei Vetevendosje (Selbstbestimmung) bekämpft. So versuchte seine Partei, die Annahme des Brüsseler Abkommens von 2013 gewaltsam zu verhindern. Als dieses Abkommen im Jahr 2015 nochmals auf der Tagesordnung stand, warfen Kurti und seine Abgeordneten sogar Tränengas im Parlament.
Serbiens Präsident sitzt zwischen den Stühlen
Als Kurti 2021 wieder Premierminister wurde, setzte er alles daran, die Umsetzung des Brüsseler Abkommens zu verhindern. Allerdings zog er dabei den Unmut der Vermittler aus den USA und insbesondere der EU auf sich. Denn die mußten, um international glaubwürdig zu bleiben und nicht als durchsetzungsschwach zu gelten, das Abkommen unbedingt durchsetzen. Es wurden sogar Sanktionen gegen den Kosovo verhängt, wenngleich milderer Art. Die Reputation Kurtis war auf einem Tiefpunkt und der serbische Präsident Vučić, mit seiner Bereitschaft zum Kompromiss, hatte die Sympathie der Vermittler auf seiner Seite.
Deshalb wäre es kontraproduktiv, wenn das offizielle Belgrad sich nun durch eine solche Aktion wie in Banjska in Mißkredit bringen würde.
Eine neue Wende nahm die Affäre fünf Tage nach der Schießerei. Der schon von der kosovarischen Seite ausgemachte „Rädelsführer“ Milan Radoičić meldete sich zu Wort und übernahm die Veranwortung für die Aktion.
Er sei dazu „gezwungen“ gewesen, heißt es in einer Erklärung, „um die Vertreibung des serbischen Volkes zu stoppen und das Leben unserer Familien und Mitbürger zu schützen und um gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf das Prištinaer Regime und die internationale Gemeinschaft zu lenken, daß das serbische Volk solch ein Terror von Kurti nicht mehr erdulden wird“.
Damit spricht Radoičić vielen Serben aus der Seele. Weil Kurti das Brüsseler Abkommen zur serbischen Teilautonomie um jeden Preis verhindern wolle, bliebe ihm nichts übrig, als die Serben systematisch aus dem Kosovo zu verdrängen, um das Problem zu lösen.
Serbiens Präsident Vučić sitzt derweil zwischen den Stühlen. Einerseits will er es sich nicht mit Brüssel und Washington verscherzen, andererseits darf er sich nicht zu nachgiebig präsentieren und versprach deshalb seinen Landsleuten: „Es wird keine Kolonnen wie aus Karabach geben, obgleich sie das wollen und erwarten.“