Die gegenwärtige Immigrationswelle ist eine „existentielle Bedrohung“ für die Länder des Westens und ihre Lebensweise, warnt Großbritanniens Innenministerin Suella Braverman. Ihre Rede in Washington in der vergangenen Woche vor dem konservativen American Enterprise Institute hat viel Staub aufgewirbelt. Sie beklagte dort, es gebe eine „toxische Mischung“ aus unkontrollierter Einwanderung, Versagen bei der Integration und dem „fehlgeleiteten Dogma des Multikulturalismus“.
Bravermans Brandrede hat wie erwartet empörte Reaktionen von links hervorgerufen. Die bürgerliche Zeitung The Times sprach von einer der schärfsten „Hardliner-Reden“ einer Innenministerin seit langem. Die 43jährige Juristin, seit Oktober 2022 für das Innenressort zuständig, gilt als eine Galionsfigur der Rechten. Aber auch in ihrer eigenen Partei, den Konservativen, hat sie einiges an Naserümpfen ausgelöst. Auch deshalb, weil Braverman zuvor noch gesagt hatte, daß es nicht ausreiche, wenn Asylbewerber sich als Frauen oder Homosexuelle in ihrem Land diskriminiert fühlten. Ein Ex-Minister der Tories, der sich in der Times anonym zitieren ließ, warf der Ministerin vor, sie befeuere „Spaltung, Haß und Ressentiments“. Das werde die Tories in den gutsituierten südenglischen Kerngebieten Stimmen kosten.
Braverman beharrt auf Ruanda als Abschiebe-Partner
Beim Parteitag der Tories in Manchester Anfang dieser Woche war Braverman natürlich auch Thema. Premier Rishi Sunak bemühte sich, dort eine Botschaft des Wandels zu platzieren: Nach 13 Jahren an der Regierung verspricht er nun „Change“ für das Land. Die Chancen, daß Sunak nach der Parlamentswahl im Herbst 2024 oder spätestens im Januar 2025 weiterhin Premier sein kann, stehen schlecht.
Es ist kein Geheimnis, daß dann vermutlich ein Kampf um die Spitze der Konservativen ansteht und Braverman als Anwärterin der Parteirechten gesehen wird. Sunak attackierte sie nach der Washingtoner Rede zwar nicht direkt, aber er ging auf Distanz zu ihrer Formulierung vom gescheiterten Multikulturalismus. Und der einflußreiche Minister und Strippenzieher Michael Gove sagte vor dem Parteitag, Braverman habe einige richtige Punkte angesprochen. Er fügte aber bedeutungsvoll hinzu, Großbritannien sei „eine der erfolgreichsten multi-ethnischen und multi-rassischen Demokratien der Welt“.
Was viele linke Kritiker der Innenministerin besonders aufregt, ist ihre Herkunft – ihr eigener familiärer Migrationshintergrund mit Wurzeln in Indien. Die Eltern der 1980 nahe London Geborenen waren in den 1960ern aus Kenia und Mauritius geflüchtet, als dort die indischstämmige Bevölkerung zunehmend verfolgt wurde. Kritiker, die Braverman gerne als Rassistin veunglimpfen, halten ihr vor, daß sie selbst Einwandererkind sei. Ihre Eltern konnten jedoch mit einem britischen Paß aus der Kolonialzeit legal ins Königreich einreisen, später engagierte sich ihre Mutter in der Konservativen Partei.
Es fällt auf, daß nicht wenige der britisch-indischen Konservativen schärfer als andere gegen illegale Immigration eingestellt sind. Vor Braverman war schon die Tory-Innenministerin Priti Patel, die ebenfalls indische Vorfahren hat, deshalb auf der Linken verhaßt. Sie kämpfte wie Braverman dafür, die Bootsmigranten über den Ärmelkanal zu stoppen.
Mehr als 100.000 illegale Immigranten – vor allem aus Syrien, Afghanistan, Irak, dem Nahen Osten, Afrika sowie Albanien – drangen so in Schlauchbooten in den vergangenen fünf Jahren nach Großbritannien. Im Jahr 2022 waren es sogar 45.000, dieses Jahr könnte die Zahl noch zunehmen. Sunak hat den Aufruf „Stop the Boats“ zu einem zentralen Wahlversprechen gemacht. Doch bislang scheitern alle diese Versuche.
Der Plan, Asylbewerber nach Ruanda auszufliegen und dort ihre Anträge zu bearbeiten, liegt nach juristischen Interventionen von Asyllobbyorganisationen auf Eis. Die ersten Flüge wurden in letzter Sekunde durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gestoppt, obwohl der britische High Court den Ruanda-Plan für rechtmäßig erklärt hatte. Nun drängelt Braverman, daß das Königreich notfalls den EGMR verlassen sollte, damit der Ruanda-Abschiebeplan beginnen könne.
Das „kaputte Asylsystem“ zu verändern, ist ihre Priorität. Die Kosten sind auf mehr als 4 Milliarden Pfund pro Jahr gestiegen. Aber es gleicht einem Kampf gegen Windmühlen. Eine Panne gab es neulich bei dem Plan, Asylbewerber auf Barken in Häfen unterzubringen. Eine erste dieser schwimmenden Unterkünfte im Hafen Portland Port in Dorset, ausgelegt für bis zu 500 Asylanten, mußte Mitte August aber evakuiert werden, weil Salmonellen in den Wasserleitungen gefunden wurden. Alle Versuche, die Bootsmigranten zu stoppen, brachten bislang wenig. Immerhin – aus britischer Sicht – ist die Zahl der auf die Insel drängenden nach wie vor gering, verglichen mit den Massen, die übers Mittelmeer nach Italien und nach Deutschland drängen.
Andererseits erlebt Großbritannien eine sehr hohe Immigration von Leuten, die legal ins Land kommen. 2022 stieg die Nettozuwanderung auf 606.000 – mehr als doppelt so viele wie 2019, als die Tories in ihrem Wahlmanifest versprachen, die Einwanderung zu drosseln. Die Hoffnung vieler Briten, nach dem Brexit durch die Kontrolle über die Grenzen und das Ende der EU-Freizügigkeit die Migration zu senken, blieb unerfüllt. Statt der vielen EU-Zuwanderer wie früher – der
„polnischen Klempner“ – kommen jetzt sehr viel mehr Nicht-EU-Bürger, die Arbeitsvisa nach dem Punktesystem erhalten. Vergangenes Jahr schwoll die Nettomigration besonders wegen einer fünfstelligen Zahl von Hongkong-Chinesen und der Ukraine-Flüchtlinge an. Auch wenn diese Migration legal ist, erhöht sie den Druck auf den Wohnungsmarkt, auf das Gesundheits- und Schulsystem.
Der Brexit hat das Migrationsproblem nicht gelöst
Während auf der Tory-Rechten viele die hohe Migration als drängendes Problem ansehen, ist die Gesamtbevölkerung anderer Ansicht. Nur 23 Prozent der Wähler insgesamt sagen, die Immigration sei das wichtigste Problem. Für 37 Prozent hat die schwache wirtschaftliche Lage die höchste Priorität. Premierminister Rishi Sunak versuchte auf dem Parteitag der Konservativen in Manchester diese Woche, Optimismus zu verbreiten. Die Inflation sinke, die Wirtschaft halte sich besser als erwartet. Er lockert die Klimaziele, die vielen als zu teuer erscheinen. Mit seiner Verschiebung des Verbots von Verbrennerautos von 2030 auf 2035 und seinen Attacken gegen Tempo-20-Zonen (in Meilen) in Innenstädten versucht er, Autofahrer auf seine Seite zu ziehen. Ob das die große Wende bringt, darf aber bezweifelt werden.
Seit mehr als einem Jahr liegen die Tories bis zu 20 Prozentpunkte hinter Labour. Die sozialdemokratische Oppositionspartei läuft sich warm für die Machtübernahme. Labour-Chef Keir Starmer gibt sich als gemäßigter Politiker der Mitte. Auch wenn er die linksradikale Corbyn-Gruppe von der Parteispitze verdrängt hat, gibt es doch noch genug Linke in den Labour-Reihen, die gerade in der Einwanderungs- und Asylpolitik für eine ganz andere Wende als die von Braverman erhoffte stehen.