© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/23 / 06. Oktober 2023

Andreas Rödder. Der Historiker sollte als CDU-Vordenker die Partei zu neuen Ufern führen – und ist schon gescheitert.
Sammlung der Mitte
Karlheinz Weißmann

Man kann die Entwicklung der deutschen Historiographie nach dem Zweiten Weltkrieg in drei Phasen einteilen: Restauration, Revolution, Stagnation. In der ersten stellte man die überlieferten und bewährten Verfahren dieser Disziplin wieder her, in der zweiten diente man sich dem neuen progressiven Zeitgeist an und suchte in Soziologie oder Politologie aufzugehen, in der dritten akzeptierte man die eigene Bedeutungslosigkeit und den Verlust der Stellung als Leitwissenschaft, die die Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert besessen hatte.

Biographisch bedingt fand die akademische Karriere des Historikers Andreas Rödder in der letzten Phase statt: geboren 1967 in Wissen an der Sieg, am Rande des Westerwalds, Abitur, Studium der Geschichte und Germanistik, Promotion bei Klaus Hildebrand, Assistent von Eberhard Jäckel, Habilitation über die britischen Konservativen des 19. Jahrhunderts. Man geht nicht fehl, wenn man annimmt, daß bei der Themenwahl auch politische Sympathie im Spiel war. Denn Rödder versteht sich als Liberalkonservativer westlicher Tradition. Zu ergänzen wäre: auch als Katholik, Atlantiker, Christdemokrat.

Als öffentlicher Intellektueller hat Andreas Rödder eine erstaunliche Produktivität entfaltet. 

Mit diesem Hintergrund, einem Sinn für Machtnähe und Rödders Begabung konnte man selbst im akademischen Betrieb des neuen Jahrhunderts etwas werden. 2005 erhielt Rödder einen Ruf auf den Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Mainz. Auffallend ist allerdings, daß seine Publikationen in der Folge – sieht man von einer Kurzen Geschichte der Gegenwart samt Auskoppelungen ab – kaum fachlichen Charakter hatten, sondern eher politische Stellungnahmen waren.

Zu erklären ist das mit Rödders Selbstverständnis als „public intellectual“. Eine Funktion, in der er während der beiden letzten Jahrzehnte eine erstaunliche Produktivität entfaltet. Das gilt für die Veröffentlichung diverser Programmschriften und zahlreicher Artikel wie die Mitarbeit im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit oder die Gründung der Denkfabrik R21. Der gemeinsame Nenner all dessen ist: Verteidigung des Erbes der Bonner Republik und Wiedergewinnung eines Begriffs von Bürgerlichkeit.

Was Rödder vorschwebt, ist die Sammlung einer politischen „Mitte“, die all diejenigen umfaßt, die sich zwar am Extremismus der Regenbogenideologie stören, aber im Prinzip nichts gegen die Ehe für alle, verkehrsberuhigte Innenstädte, ein buntes Deutschland und die Dogmen der geltenden Zivilreligion einzuwenden haben. Der Erfolg seiner Vorstöße blieb aber überschaubar, selbst nachdem er im Frühjahr 2022, im Gefolge der Wahl von Friedrich Merz zum Parteichef, die Leitung der Fachkommission „Wertefundament und Grundlagen der CDU“ übernommen hatte. Was vor allem mit der Weite des Spagats zu tun hat, den er versucht: Angriffsgeist zu entwickeln, um überhaupt öffentlich wahrgenommen zu werden, und zugleich alles tun, um nicht in den Ruch eines „Rechten“ zu geraten und der Feme zu verfallen. Insofern ist es Ironie des Schicksals, daß Rödder als Vorsitzender der CDU-Grundwertekommission ausgerechnet nun zu Fall kam, als er laut darüber nachdachte, ob die „Brandmauer“-Strategie seiner Partei gegenüber der AfD zum Ziel führen oder die Geiselnahme durch die Linke verewigen werde.