Die zunehmende Resistenzrate gegenüber lebensnotwendigen Antibiotika ist so besorgniserregend (JF 34/23), daß die EU-Kommission im Rahmen ihrer Pharmareform nun stringente Maßnahmen im Kampf gegen die Antibiotikaresistenzen ergreift. Ein Kernpunkt der neuen Richtlinienentwürfe „für die Zulassung und Überwachung von Humanarzneimitteln“ (2023/0131/COD) und „zur Schaffung eines Unionskodexes für Humanarzneimittel“ (2023/0132/COD) ist eine massive Ausweitung der Verschreibungspflicht bei nahezu allen antimikrobiellen Substanzen.
Die medizinischen Fachgesellschaften, die GKV sowie der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) laufen Sturm. Die neue Richtlinie soll den bisherigen Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel (Richtlinie 2001/83/EG) ersetzen. Die Neuregelungen beziehen sich auch auf das zentrale Zulassungsverfahren, auf seltene Erkrankungen sowie Maßnahmen zur Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen. Sogenannte Exklusivitätsvoucher sollen finanzielle Anreize für die Entwicklung neuartiger Antibiotika schaffen, da dies bislang für die Pharmaindustrie unrentabel war.
Keine rezeptfreien Salben und antiseptischen Mundspüllösungen?
Die Pflicht zur ärztlichen Verordnung betrifft alle Antibiotika, Virostatika, Antimykotika und eine Vielzahl rezeptfreier Arzneimittel wie Antiseptika (beispielsweise Mundspüllösungen) bis hin zu Hautdesinfektionsmitteln. Selbst gängige Mittel gegen Erkrankungen wie beispielsweise Scheidenpilz, Windeldermatitis und Nagelpilz oder rezeptfreie Salben mit Aciclovir gegen Lippenherpes wären nicht mehr für die Eigenmedikation frei erhältlich. Aufgrund guter Verträglichkeit, einfacher Handhabung und eines sehr geringen Resistenzpotentials waren diese Substanzen aus gutem Grund bislang rezeptfrei.
Die Resistenz gegen Aciclovir bei Herpes-Simplex-Virus-Infektionen (HSV) liegt nach einer Studie der Katholischen Universität Löwen unter einem Prozent (Biochemical Pharmacology 206/22). Eine US-Studie zur Vulvovaginalmykose kam zu ähnlich niedrigen Resistenzraten bei diesen Antimykotika. Warum nun gerade eine Verschreibungspflicht der Entstehung weiterer Resistenzen entgegen wirken würde, bleibt bislang ein infektiologisches Geheimnis der EU-Kommission.
Herpes-Bläschen an der Lippe sind schmerzhaft, aber meist harmlos. Die Symptome lassen sich unter anderem mit dem Auftragen von aciclovirhaltigen Salben lindern und die Übertragung von Lippenherpes verhindern. Unbehandelt können die Erreger in seltenen Fällen bei Menschen mit geschwächter Abwehr lebensbedrohende Erkrankungen wie eine HSV-Sepsis oder eine Hirnentzündung (HSV-Enzephalitis) verursachen. Aciclovir ist um so wirksamer, je früher es angewendet wird. Müßte man tage- oder wochenlang auf einen Arzttermin warten, um eine Herpescreme verschrieben zu bekommen, wäre die Infektion in den meisten Fällen schon vorbei, und den unnötigen Arzt-Termin könnte man sich dann sparen.
Antiseptische Mundspül-Lösungen helfen gegen die Plaquebildung und Entzündungen des Zahnfleisches. Mangelnde Mundhygiene kann zur chronischer Gingivitis, zu Parodontitis, Zahnverlust bis hin zu einer Sepsis führen. An einer schweren Form der Parodontitis leiden in Deutschland etwa elf Millionen Patienten, so die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie. Eine Verschreibungspflicht von Chlorhexidin-Spül-Lösungen (CHX) könnte zu einer Verschlechterung der Situation in der Zahnmedizin und unnötigen Konsultationen beim Zahnarzt führen.
CHX wurde erstmals 1954 als „neues antibakterielles Mittel von hoher Wirksamkeit“ beschrieben und anschließend schnell als Desinfektionsmittel in unterschiedlichen OP-Gebieten, in der Urologie, der Gynäkologie, der Augenheilkunde und der HNO-Heilkunde eingesetzt, bevor es in den späten 1960er Jahren in die Zahnmedizin und auch als normales Hautdesinfektionsmittel eingeführt wurde. Eine klinisch relevante Resistenzentwicklung ist trotz diesen langes Anwendungszeitraums bislang nicht nachgewiesen worden.
Auch ein unbehandelter Fußpilz kann den Weg zu einer ernsten Infektion mit Bakterien oder Viren ebnen, die durch die erkrankte Haut oder kleine Risse in den Körper eindringen. Die Pilze dehnen sich von ihrer Haupteintrittspforte, dem Zehenzwischenraum, oft auf größere Fußbereiche, wie Fußrücken, -sohle oder Ferse bis hin zur Leistenbeuge aus. Menschen mit einem geschwächten Immunsystem haben ein erhöhtes Risiko, daß die Erkrankung außer Kontrolle gerät – sie müßten dann mit hochdosierten Antimykotika behandelt werden. Dies wiederum kann die Entwicklung von Resistenzen gegen diese Wirkstoffe begünstigen.
Deswegen ist die Eigenbehandlung mit antimykotischen Salben sinnvoll. Eine Bagatellverletzung der Haut kann ohne schnelle Desinfektion durch das Eintreten von Erregern zu weiteren Komplikationen wie Eiterentwicklung oder auch zu einer septischen Wunde, einer Superinfektion und später einer Blutvergiftung führen. Die wiederum muß mit hochdosierten Antibiotika behandelt werden, was den zu Recht beklagten Resistenzdruck erhöht. Somit ist der eigenverantwortliche Zugang zu Desinfektionsmitteln, Antimykotika und virus-abtötenden Substanzen wie Aciclovir Grundvoraussetzung zur Selbstbehandlung in der Regel unkomplizierter Infektionen.
Wieder einmal wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
Bernd Mühlbauer, Vizechef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), warnte: „Die EU-Kommission will hier das Kind mit dem Bade ausschütten.“ Dabei vermenge sie mit Antibiotikaresistenzen und Resistenzen gegen äußerlich anzuwendende Wirkstoffe gegen Viren und Pilze zwei Themen, die sich wesentlich unterscheiden: Ersteres ist ein Problem, zweiteres eher nicht. Bei der geplanten Maßnahme handele es sich deshalb um „wissenschaftlich wenig begründeten Aktionismus, hinter dem nicht mehr als eine theoretische Überlegung steckt“. Die geplante massive Ausweitung der Verschreibungspflicht bei derart häufig angewendeten Arzneimitteln könne das schon jetzt vorhandene Versorgungsproblem mit zusätzlichen 150 Millionen Arztbesuchen deutlich verstärken.
Nicola Buhlinger-Göpfarth, Medizinprofessorin und Vizechefin des Deutschen Hausärzteverbandes, sieht das ähnlich: Zwar sei das Anliegen der EU-Kommission grundsätzlich richtig und nachvollziehbar, da die Einnahme von antimikrobiellen Mitteln auf ein vernünftiges Maß reduziert werden müsse. „Auf der anderen Seite sind die Arztpraxen heute schon stark ausgelastet, so daß nicht alle rezeptfreien Präparate (OTC) in Zukunft verschreibungspflichtig werden können. Es ist zu hoffen, daß dieses offensichtliche, medizinisch kontraproduktive Eigentor der EU-Kommission noch in der Entwurf-Phase nachhaltig korrigiert wird.“