© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/23 / 29. September 2023

Dramatisch der Lebenswelt entrückt
Martin Sellner ruft „authentische Rechte“ dazu auf, die wahre und wehrhafte Demokratie neu zu gründen
Eberhard Straub

Der rechte Aktivist Martin Sellner sorgt sich um das deutsche Volk und die deutsche Kultur, aber nicht sonderlich um die deutsche Sprache. Als „authentischer Rechter“ wünscht er einen regime change, für den ihm die deutschen Worte fehlen. Dieser schlichte Machtwechsel läßt sich offenbar nur über campaigning erreichen, damit aus podcastern und influencern community organizer werden, die mit Franchisekonzepten und bonding effects noch isolierten Rechten zu ihrem corporate design verhelfen. Dieses gibt ihnen Mut, endlich white flights in gated communities zu unterlassen und dem call to non violent actions zu folgen, bei denen people and power eins werden, den social change bewirken und damit die Voraussetzung dafür schaffen, den erhofften regime change durchsetzen zu können. Dies identy-Paradox eines authentischen Identitären verdirbt ihm aber nicht die gute Laune. Denn wo Begriffe fehlen, stellt sich schnell ein amerikanisches Wort ein, zumal wenn man Denken vorzugsweise für eine besondere amerikanische Fähigkeit hält. Wissenschaftlichkeit verwechselt Martin Sellner daher gut amerikanisch mit Modellen und Systemen, die überall und immer gelten, passend für die universalistisch-amerikanische one world mit dem all american boy, in dem sich die Menschheit verkörpert. 

Staat und Gesellschaft von einer linken Übermacht befreien

Obschon er zuweilen an unterscheidbare Erscheinungen wie Volk, Raum, Kultur erinnert, handelt er vorzugsweise von ort- und zeitlosen Idealtypen wie „dem rechten Lager“, „der Partei“, „der Bewegung“, „der Gegenöffentlichkeit“ und „der Theoriebildung“ und „staatspolitischen Gestaltungsmacht“ im metapolitischen Sinne. Alles Konkrete verschwindet in der Metapolitik als Sinngebung des Sinnlosen. Martin Sellner argumentiert wie Gene Sharp, für ihn „der Clausewitz des gewaltfreien Widerstandes“, der ein für allemal erläuterte, auf welche Weise ein undemokratisch regiertes Volk sich seiner Macht bewußt wird und sie einsetzt, um Gewaltherrschaft und Entfremdung von sich abzuschütteln. 

Clausewitz war ein großer Historiker und ist deshalb weiterhin ein großer politischer und militärischer Denker. Gene Sharp war ein humanitärer Ideologe und demokratischer Befreiungstheologe, der jenseits der Wirklichkeit und konkreter Ordnungen oder Unordnung die Selbsterlösung durch Selbstamerikanisierung jedes mühseligen und beladenen Volkes modellhaft systematisierte: eine Selbstamerikanisierung, die beim social change und regime change nur auf die Kraft der Moral und des unerschütterlichen guten Willens vertraut. Mit solchen dem Lebensernst und der dramatischen Lebenswelt entrückten „reinen“ Ideen möchte Martin Sellner „dem rechten Lager“ Mut machen, nicht dabei zu verzagen, Staat und Gesellschaft von einer linken Übermacht zu befreien. Sie reduziert die Demokratie auf Demokratiesimulation. Es ist dringend geboten, diese Täuschung und die Täuscher zu entlarven und – nach geglücktem, allseitigem Wandel – die wahre und wehrhafte Demokratie neu zu gründen.  

Reden spaltet, Handeln vereint! Also laßt uns, trotz der notwendigen Metapolitik, alle in die Hände spucken und gemeinsam wagen, unsere ethnokulturelle Identität und Substanz zu erhalten. Goethe, dem Beamten und Praktiker, mißfiel in schwierigen Zeiten metapolitische Schriftstellerei, Pfuscherei in Sachfragen, die eines Sachverstandes und sachlicher Gewissenhaftigkeit bedürfen.  Martin Sellner, befangen in seinen unhistorischen Abstraktionen, stiftet, wie Goethe vermutete, in verworrenen Zeiten nur weitere Verwirrung. Das „rechte Lager“ gibt es nicht, und „die Partei“ und „die geistige oder aktionistische Bewegung“ um sie herum sind höchstens ein Wunschtraum. Es gibt die AfD und die FPÖ, um nur im Lebensraum von Martin Sellner zu bleiben. Verstehen sich beide Parteien überhaupt als rechts? Sie haben eine jeweils verschiedene Geschichte, doch Geschichte irritiert diesen authentischen Rechten. 

Er legt Wert darauf, sich scharf von den alten Rechten zu trennen. Auf welche Art unterscheiden sich alte Rechte von den neuen? Was ist rechts, was ist links, was bestimmt die Mitte? Die alten Rechten nach 1945 sollen die „Ewiggestrigen“ gewesen sein, die vom Nationalsozialismus oder italienischen Faschismus nicht lassen konnten oder wollten. Das behaupteten Demokraten und Sozialdemokraten, die in der „Konsensdemokratie“ Österreichs oder der Bundesrepublik jeden als „Nazi“ verdächtigten, der geistige Distanz zum Parlamentarismus, zum Parteiensystem, zur forstschreitenden Eroberung des Staates durch gesellschaftliche Gruppen wahrte, durchaus in Übereinstimmung mit einer sehr bedeutenden, weit zurückreichenden Tradition, die seit dem 19. Jahrhundert vor totaler Demokratisierung warnte. 

Doch es waren ungemein dynamische und geistesgegenwärtige ehemalige Faschisten und Nationalsozialisten, die zwischen 1949 und 1974 die goldenen Jahre in Italien und in Westdeutschland ermöglichten. An dieses Tabu darf man nicht rühren. Die CDU oder die Democrazia Cristiana wollten nie eine konservative Partei sein oder offen für rechte Kräfte. Sie verstanden sich als antifaschistische Bewegung. Die „alten Nazis“, die damals noch ziemlich jung waren, bemühten sich, im neuen Sinn der neuen Parteien die Reihen fest zu schließen und nicht durch Konsensverweigerung aufzufallen. Martin Sellner, in der antifaschistischen, westlichen Wertegemeinschaft aufgewachsen, will, daß authentische Rechte endlich als authentische, wehrhafte Demokraten anerkannt werden. Damit alles so bleibt wie es ist, muß man nur ein paar Etiketten ändern, etwa rechts antifaschistisch nennen. Das läßt sich allerdings ganz einfach, ohne metapolitischen Unfug, sagen. 

Martin Sellner: Regime Change von rechts. Eine strategische Skizze. Verlag Antaios, Schnellroda 2023, broschiert, 304 Seiten, 20 Euro