© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/23 / 29. September 2023

Sozialismus der Tat
Propagandamythos oder erfolgreiche politische Integrationsmaßnahme: Am 1. Oktober 1933 rief das NS-System den „Eintopfsonntag“ ins Leben
Matthias Bäkermann

Die Jubelarie aus der Braunschweiger Tageszeitung von Anfang Oktober 1933 über den ersten „Eintopfsonntag“, der wie an vielen Orten im Deutschen Reich auch in Wolfenbüttel anläßlich des Erntedanktages am 1. Oktober aufwendig zelebriert wurde, ist überschwenglich: „Das, was man am Sonntag auf dem Stadtmarkt erlebte, war Sozialismus der Tat, war echte Volksgemeinschaft, war ein Zeichen dafür, daß die Idee Adolf Hitlers in Wolfenbüttel festen Fuß gefaßt hat.“ Hinter diesem „Eintopfsonntag“ stand die Überlegung, statt des besonders in bürgerlichen Kreisen üblichen Sonntagsessens mit Braten, Gemüse und Kartoffeln ein einfaches und kostengünstiges Eintopfgericht zu servieren, um die damit gesparte Differenz der „Volkswohlfahrt“ zukommen zu lassen. Konkret hieß das, die veranschlagten etwa 50 Pfennig pro Person und Essen flossen dem „Winterhilfswerk“ zu. Diese NS-Wohlfahrtsorganisation perfektionierte eine bereits im Winter 1931/1932 von diversen privaten und staatlichen Stellen ins Leben gerufene Nothilfeaktion, die Lebensmittel, Brennstoff und Kleidung für die Ärmsten sammelte. Gerade in den ersten Jahren konnte das von dem NS-Politiker Erich Hilgenfeldt geleitete Hilfsprogramm – natürlich nur für „Volksgenossen“ – sichtbare Erfolge im Kampf gegen die Not von Arbeitslosen vorweisen. Dieses konnte bis 1939 auf insgesamt 2,6 Milliarden Reichsmark zurückgreifen, die sich aus Spenden von Firmen und Institutionen, freiwilligen Gehalts- und Lohnabzügen und vor allem Haus- und Straßensammlungen zusammensetzten. Die Historikerin Daniela Rüther qualifizierte in ihrer Monographie „Hitlers ‘Eintopfsonntag’“ (Duncker & Humblot, Berlin 2021) zwar den Erfolg der Maßnahme in summa als „eine Legende“ ab, allerdings flossen allein durch die „Eintopfsonntage“ dem „Winterhilfswerk“ immerhin zehn Prozent dieser Milliarden-Summe zu. 

Auch wenn die nationalsozialistische Gleichschaltung im Laufe des Jahres 1933 zunehmend an Fahrt aufnahm, waren die Auswirkungen der Wirtschaftskrise noch überall spürbar und bargen jede Menge sozialen Sprengstoff. Immer mehr Institutionen wurden unterdrückt oder zerschlagen (Gewerkschaften, Parteien), ließen sich durch gesetzliche und administrative Regeln ins NS-Korsett pressen (Presse und öffentlicher Dienst) oder paßten sich der Ideologie der neuen Herren quasi per Selbstgleichschaltung an (Universitäten). Das änderte allerdings nichts an den handfesten wirtschaftlichen Parametern: Die Arbeitslosenzahl hatte zwar zum Vorjahr abgenommen, war aber mit knapp fünf Millionen immer noch höher als 1931, der durchschnittliche Bruttoarbeitslohn war mit etwa 1.600 Reichsmark im Jahr sogar auf den tiefsten Stand seit 1925 gesunken. 

Besonders schlecht ging es der Arbeiterschaft, deren Quartiere – egal ob in Hamburg oder Berlin, im Ruhrgebiet oder dem Oberschlesischen Revier – traditionell rot wählten. Obwohl das Verbot von KPD und SPD und der Zerschlagung ihrer Organisationen bereits im Sommer 1933 jede oppositionelle Struktur massiv erschwerte, mußte dem Elend im Berliner Wedding oder in Hamburg-Wilhelmsburg engagiert begegnet werden, wollte die NSDAP, die zwar vom Namen her „Arbeiterpartei“, nach ihrer soziologischen Wählerstruktur jedoch eine „Allerweltspartei“ (Otto Kirchheimer) war, das proletarische Milieu nicht dauerhaft verprellen und damit die innere Stabilität des Systems aufs Spiel setzen.

Die wirkungsmächtige Verheißung einer Volksgemeinschaft  

Mit der Verheißung einer Volksgemeinschaft – einem Schlagwort übrigens, das in der Weimarer Republik überparteilich von rechts bis links Konjunktur hatte – besaßen die Nationalsozialisten ein gerade für das Proletariat wirkungsmächtiges semantisches Instrument, um die politischen Sehnsüchte nach Einheit und Gleichheit über die unruhige „Systemzeit“ hinaus für eine „neue Ordnung“ zu mobilisieren. Diese waren nicht selten mit sozialistischen Idealen deckungsgleich. 

So erfreuten sich die verhältnismäßig einfach zu organisierenden öffentlichen „Eintopfsonntage“ besonders in ehemals „roten Quartieren“ großer Resonanz. Daß daran nicht nur NS-Größen wie Joseph Goebbels teilnahmen, der zum Beispiel bei seinen Auftritten im Arbeiterbezirk Wedding den Trachtenjanker regelmäßig gegen den für Bolschewiken typischen schwarzen Ledermantel eintauschte, sondern sich viele prominente Schauspieler und Sportler der Zeit beteiligten, unterstrich die natürlich auch vom System beabsichtigte propagandistische Wirkung effektvoll. Auch wenn das in der NS-Propaganda gern strapazierte Miteinander vom „Arbeiter der Stirn“ und dem „Arbeiter der Faust“ bei Erbsensuppe oder Brühnudeln eher die Ausnahme bildete, weil gerade die Menschen „mit weißem Kragen“ den lauten Gemeinschaftsspeisungen fernblieben, haben sich den deutschen Zeitgenossen nur wenige Begriffe weit über das Erleben der NS-Diktatur von 1933 bis 1945 derart dauerhaft eingeprägt wie der kollektive „Eintopfsonntag“.