© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/23 / 29. September 2023

Patriotische Verzweiflung
Der „Küstriner Putsch“ 1923 warf ein Schlaglicht auf die Existenz der mythischen „Schwarzen Reichswehr“, einer Reservearmee jenseits der Versailler Beschränkungen
Karlheinz Weißmann

Am 1. Oktober 1923 erschien eine aufsehenerregende Meldung in deutschen Zeitungen: „Nationalkommunistische Haufen versuchten heute früh, Küstrin zu überrumpeln und drangen in die militärisch nicht besetzte Altstadt ein.“ Dieser „Küstriner Putsch“ war allerdings schneller zu Ende als er begonnen hatte, und die Putschisten der geheimnisumwitterten „Schwarzen Reichswehr“ hatten offenbar wenig zu tun mit der vom Ausland wie von der deutschen Linken gemutmaßten Untergrundarmee.

In der angespannten Atmosphäre des Herbstes 1923 konnte allerdings der Eindruck entstehen, als ob die Staatsordnung von dieser Seite ernsthaft gefährdet würde. Der preußische Innenminister, der Sozialdemokrat Carl Severing, hatte immer wieder darauf hingewiesen, daß „Arbeitskommandos“ oder „Erfassungsabteilungen“ über Waffenlager verfügten und enge Verbindung mit republikfeindlichen Kräften der Rechten hielten, denen ein Umsturzversuch zuzutrauen war. Seine Beschwerden richteten sich vor allem gegen Hans von Seeckt, den Chef der Heeresleitung, der dafür gesorgt hatte, daß sogenannte „Zeitfreiwillige“ von der Reichswehr für einige Monate ausgebildet und dann als Reservisten entlassen wurden, aber faktisch für den Mobilisierungsfall zur Verfügung standen. 

Vorbereitung der Abwehr gegen Polen an der Ostgrenze

Seeckt handelte dabei nicht im Alleingang, sondern auf Weisung der Reichsregierung, die auch nach dem Ende des letzten Aufstands in Oberschlesien einen Angriff von polnischer Seite – eventuell im Bund mit Frankreich – fürchtete, den das Hunderttausendmannheer unmöglich abwehren konnte. Im Rückblick erklärte Joseph Wirth, der frühere, aus dem Zentrum hervorgegangene, Reichskanzler, mit Blick auf die Situation der Jahre 1921/1922: „In dieser Stunde der Entwicklung hat die damalige Reichsregierung – und ich persönlich hatte die Verantwortung in Händen – (...) das getan, was zur Sicherung der Ostgrenze nötig war. Wir wußten, was damals auf dem Spiel stand (...). In dieser Not des Reiches haben wir damals an der Ostgrenze zur Abwehr die Vorbereitungen getroffen, die zu treffen unsere vaterländische Pflicht gewesen ist. (...) Wir haben die Abwehr organisiert und einen Grenzschutz aufgezogen.“

Daß dieser Grenzschutz faktisch zum „Auffangbecken“ (Hannsjoachim W. Koch) von Angehörigen der ehemaligen Freikorps wurde, war unter den gegebenen Umständen so wenig zu vermeiden wie der Rückgriff auf die nationalistischen Wehrverbände, die sich als einzige sofort zur Verfügung stellten. Da in Folge der Ruhrbesetzung die Inspektionen der Internationalen Militärkontrollkommission entfielen, konnte man fast ungehindert ehemalige Offiziere und Soldaten, aber auch Studenten, Oberschüler und Arbeitslose werben, die die Aussicht auf festen Sold lockte. Die Männer gehörten formell nicht zur Reichswehr, sondern zählten als Zivilarbeiter oder -angestellte, trugen aber Uniform und waren in Kasernen untergebracht, wo man sie ausbildete.

Was keineswegs bedeutete, daß Seeckt auf die Zuverlässigkeit der „schwarzen“ Verbände blind vertraut hätte. Er fürchtete vielmehr, daß hier eine Truppe entstand, die nur auf die Gelegenheit zum Losschlagen wartete. Wie berechtigt diese Einschätzung war, konnte man am wichtigsten Verband der Schwarzen Reichswehr erkennen, den der „Königlich Preußische Major außer Dienst“ Ernst Buchrucker im Wehrkreises III (Provinz Brandenburg) aufgestellt hatte. Buchrucker kam dabei seine Vergangenheit als „Baltikumer“ zugute, der enge Kontakte zu Führern der ehemaligen Einwohnerwehren und Freikorps besaß: in erster Linie dem aus der Organisation Escherich (Orgesch) hervorgegangen Heimatschutz sowie der „Arbeitsgemeinschaft Roßbach“, die ihren Ursprung in dem gleichnamigen Freikorps hatte.

Buchrucker galt als fähiger Organisator. Schon während der Grenzlandkämpfe in Oberschlesien hatte er Waffen und Versorgungsgüter an deutsche Einheiten geliefert und seit 1921 seinen Einflußbereich mit einem Netz von Verbindungsstellen überzogen. An verschiedenen Orten ließ er selbständige Formationen – Maschinengewehrkompanien, Pioniereinheiten und Infanteriebataillone – aufbauen. Die sollten aber nicht nur den Kern einer Reservearmee bilden. Denn Buchrucker scheint im Sommer 1923 geglaubt zu haben, daß die Zeit zu Handeln gekommen sei. Welches Ziel er genau verfolgte, ist allerdings ungeklärt. Manches spricht für die Annahme, er habe lediglich den Übergang vom passiven zum aktiven Widerstand im Ruhrgebiet, die Verhängung des Ausnahmezustands und die Bildung einer Reichsregierung auf breiter Grundlage – unter Einschluß der SPD – erreichen wollen, manches für die These, es sei ihm darum gegangen, nach dem Vorbild Mussolinis oder Kemal Paschas einen „Marsch auf Berlin“ durchzuführen und die Reichswehrspitze zur Machtübernahme zu bewegen.

Besetzungstruppen von Spandau und Küstrin kapitulierten schnell 

In jedem Fall hat Buchrucker für die Nacht vom 29. zum 30. September 1923 die Mobilisierung der ihm unterstellten Einheiten befohlen und gleichzeitig deren Übernahme in die reguläre Reichswehr verlangt. Als die Forderung abgelehnt wurde, setzte Buchrucker 200 Mann nach Berlin in Marsch, die das Regierungsviertel besetzen sollten. Seeckt reagierte sofort, ließ die Soldaten entwaffnen, mit Bahnfahrkarten versehen und zu ihren Standorten zurückschicken. Gleichzeitig erging ein Haftbefehl gegen Buchrucker, dem der sich aber entziehen konnte, indem er einen Nachtzug von Berlin nach Küstrin nahm. Dort wollte er die Festung besetzen, während sein Vertrauter Walther Stennes einen Handstreich auf die Festung Spandau unternahm. Buchrucker wurde aber schon bei dem Versuch arretiert, den Festungskommandanten in Küstrin zur Übergabe zu bewegen. Seine Männer hielten sich noch einen Tag, hofften auf Entsatz, der tatsächlich anrückte, sich aber den überlegenen Kräften der Reichswehr ergeben mußte. Dann kapitulierten Buchruckers Männer, kurz darauf auch diejenigen, die unter dem Kommando von Stennes standen.Stennes hatte allerdings für sich und seine Leute Straffreiheit ausgehandelt, was ihn davor bewahrte, wie Buchrucker und eine Reihe seiner Mitverschwörer vor Gericht gestellt und wegen Hochverrats abgeurteilt zu werden. Die Angeklagten kamen mit relativ milden Strafen davon, obwohl sie in eine Reihe von Fememorden verstrickt waren, die innerhalb der Schwarzen Reichswehr wirkliche oder vermeintliche Verräter getroffen hatten. 

Buchrucker wie Stennes schlossen sich in der Folge der NSDAP an, verließen sie aber wieder aus Enttäuschung über Hitlers „Legalitätskurs“, der nicht ihrem revolutionären Temperament entsprach. Sie fanden Anschluß an Strömungen, die zwar nicht als „nationalkommunistisch“, aber regelmäßig als „nationalbolschewistisch“ bezeichnet wurden. Von einem kenntnisreichen und mit diesem Milieu wohlvertrauten Beobachter des „Nachkriegs“ – Ernst von Salomon – stammte die Feststellung, man habe die Freiwilligenverbände „oft genug in ihrer Gesamtheit einer sogenannten ‘nationalbolschewistischen’ Einstellung verdächtigt“. Er fügte aber hinzu, daß es sich dabei nicht um eine Weltanschauung im genauen Sinn des Wortes oder einen konkreten politischen Entwurf gehandelt habe, sondern um eine „Gefühlskomponente“. Wahrscheinlich muß man auch den Dilettantismus des Küstriner Putsches darauf zurückführen, daß der Kopf der Schwarzen Reichswehr weniger von klaren Vorstellungen denn von patriotischer Verzweiflung getrieben war.