Der Ukraine-Krieg hat die Verhältnisse in der Europäischen Union und ihre Position im globalen Machtgefüge drastisch verändert. Die EU hat sich die US-Perspektive bedingungslos zu eigen gemacht. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán beschreibt die Ukraine als faktisches US-Protektorat: „Wenn die Amerikaner also beschließen, daß sie Frieden haben wollen, wird es Frieden geben.“ Was auch heißt: Über ureigene Belange der Europäer wird anderswo entschieden. Die Fremdbestimmung der EU korrespondiert mit der Konfusion im Innern. Der Antrittsbesuch des tschechischen Präsidenten und früheren Nato-Generals Petr Pavel am 21. März in Berlin machte die Verschiebung der politischen Gewichte in Europa deutlich. Pavel hielt sich nicht lange bei Höflichkeitsfloskeln auf. Er verlangte, Deutschland solle seine „Führungsqualitäten in vielen Bereichen“ unter Beweis stellen.
Gemeint war keine politische, militärische oder sonstige Wegweisung, sondern die Vorbildfunktion in Sachen Freigiebigkeit. Weil das Wort „Führung“ dazu nicht recht paßte, fügte er hinzu, man solle lieber von „deutscher Verantwortung“ sprechen, der Deutschland durch die Unterstützung kleinerer Nato-Staaten beim Ausbau ihrer militärischen Kapazitäten sowie beim Wiederaufbau in der Ukraine nach Ende des Krieges gerecht werden könne. Pavel lobte auch die Bemühungen Deutschlands bei der Suche nach Ersatz für russisches Gas. Berlin sei dabei sehr „effizient und flexibel“ vorgegangen. Vor dem Hintergrund der gesprengten Ostsee-Pipeline war das blanker Zynismus. Den muß man sich leisten können. Pavel konnte. Er stellte klar, daß die mittelosteuropäischen Partner eine intensive Rolle bei der Unterstützung der Ukraine übernommen und daraus ein ganz neues Selbstbewußtsein entwickelt hätten. Ähnliche Töne sind aus Polen vernehmbar, das weiterhin auf seinen absurden Reparationsforderungen besteht. Der ehemalige ukrainische Ex-Botschafter Andrij Melnyk schien sogar mehrere Monate lang in Personalunion die deutschen Außen-, Wirtschafts- und Verteidigungsministerien zu führen. Noch nachdem er sich nach Kiew verabschiedet hatte, waren seine imperativen Tweets – zuletzt hatte er eine Verzehnfachung der westlichen Militärhilfe verlangt – den deutschen Medien eine Spitzenmeldung wert. Das neue Selbstbewußtsein der ehemaligen Ostblock-Staaten und ihr Zuwachs an Einfluß beruht auf ihrer Nähe zu den USA, die im Ukraine-Krieg militärisch, politisch und propagandistisch den Kurs bestimmen.
Dieser kommt den Rußland-Komplexen und Befürchtungen der Osteuropäer entgegen, die auf die Niederlage, wenigstens aber auf die dauerhafte Schwächung des großen Nachbarn im Osten setzen. Pavels Hinzufügung, er wäre „sehr unglücklich“, käme es zu einem Wettbewerb mit dem „traditionellen Westeuropa“, bedeutet im Klartext, daß Berlin und Paris den Kurs gefälligst mitvollziehen oder aber damit rechnen müssen, überspielt zu werden. Vor 20 Jahren, im Vorfeld des zweiten Irakkriegs, hatte der damalige US-Verteidigungsminister Rumsfeld ein „neues“ vom „alten“ Europa“ unterschieden. Damit reagierte er auf den Widerstand Frankreichs und Deutschland, die sich mit Rußland den kriegsentschlossenen USA in den Weg zu stellen versuchten, während die EU-Beitrittskandidaten aus dem ehemaligen Ostblock sich klar an der Seite der USA positionierten. Damals zeichnete sich ab, daß Wa-shington die Osteuropäer als Hebel benutzen würde, um auf die Politik der EU Einfluß zu nehmen. Vorerst aber blieb Deutschland für die USA ein Partner erster Ordnung, während die Hoffnungen der polnischen Führung, für ihre transatlantische Loyalität mit Aufträgen in der Rüstungs- und Bauindustrie sowie mit der Visafreiheit für polnische Bürger belohnt zu werden, unerfüllt blieben.
20 Jahre später empfiehlt sich ein konsolidiertes Polen als engster Verbündeter der USA auf dem europäischen Festland. Alain de Benoist konstatiert eine Achse Washington-London-Warschau, die sich herausbildet. Es entsteht noch viel mehr, und zwar ein US-höriger Cordon Sanitaire zwischen Deutschland und Westeuropa einer- und Rußland andererseits. Zu diesem Sperrgürtel zählen auch Tschechien, die baltischen Staaten und künftig wohl die Ukraine. Die USA haben ihre strategische Chance genutzt. Dem steht ein völliges Versagen der deutschen Politik gegenüber. Seine ganze Dimension erschließt sich durch einen Blick in die Historie.
Was Rumsfeld als das „Neue Europa“ bezeichnete, war 70 Jahre zuvor als „Zwischeneuropa“ oder als „Schütterzone“ bezeichnet worden. Die „Schütterzone“ taucht auf in dem Werk „Die Staaten als Lebewesen“ des österreichischen Schriftstellers und Kartographen Karl Springenschmid (1897–1981). Sein „Geopolitisches Skizzenbuch“ erschien 1933 mit einem Vorwort von Karl Haushofer. „Schütterzone“ meinte eine Zone der Verwerfungen und Unruhe, die sich nach dem Zusammenbruch des russischen und habsburgischen Kaiserreichs und des osmanischen Reiches zwischen Ostsee und Schwarzem Meer herausgebildet hatte. Es entstanden 20.000 Kilometer neue Grenzen und 13 sogenannte Nationalstaaten mit 94 Millionen Einwohnern, von denen 29 Millionen als nationale Minderheiten zählten. Die neuen Staaten waren unfähig zu innerer Befriedung. Ihre Merkmale waren Instabilität, militärische Aufrüstung und Verschuldung. Aufgegriffen wurde die „Schütterzone“ 1959 vom Historiker Johannes Barnick in seinem – 2023 wieder aufgelegten – Buch „Deutsch-russische Nachbarschaft“. Für Barnick handelte es sich um eine „Kleine Entente“, geschaffen aus dem Geist von Versailles für die „konstitutionelle Einkreisung Deutschlands durch den westlichen Liberalismus und den osteuropäischen Nationalismus“.
Barnick zog daraus eine politische Konsequenz für die Gegenwart. Da die Wiedervereinigung Deutschlands – die wenigstens Westdeutschland, die DDR („Mitteldeutschland“) und die abgetrennten Ostgebiete zu umfassen hatte – nur mit Zustimmung Moskaus zu erreichen war, sollte die Bundesrepublik aus der Ost-West-Blockkonfrontation aussteigen und das vereinte Deutschland sich als Garant für die Herrschaft Rußlands über die besetzten mittelosteuropäischen Länder empfehlen. Rußland hätte damit sein imperiales Vorfeld gesichert, die Schütterzone wäre ein für allemal ruhiggestellt und Deutschland hätte keinen osteuropäischen Nationalismus und keine neue Einkreisung zu fürchten. Die 1945 in Jalta von Stalin, Roosevelt und Churchill vereinbarte Teilung Europas wäre grundsätzlich akzeptiert und durch ein deutsch-russisches Rapallo-Arrangement ergänzt und besiegelt.
Ganz anders gerichtet war der Blick, den Giselher Wirsing in dem 1932 veröffentlichten Buch „Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft“ nach Osten warf. Der gerade mal 24jährige Autor plädierte dafür, die osteuropäischen Staaten – Polen, die Tschechoslowakei, die drei baltischen Länder, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien – nicht als Bedrohung und Provokation, vielmehr als Herausforderung und Chance zu begreifen und für sich zu gewinnen. Das russisch-bolschewistische Modell tauge für sie nicht, „denn sie gehören zur Mitte Europas und sind nicht Rußland, zumal eine Übernahme der russischen Denkformen politische Selbstaufgabe (…) wäre“. Zwischen Deutschland und Zwischeneuropa bestehe eine „Raumeinheit“ und eine „Dynamik überstaatlicher Daseinszusammenhänge und übernationaler Wirklichkeiten“, so daß die „Raumintegration“ nach einer „Staatsintegration“ rufe. Nicht die Idee der Nation hätte sich erledigt, so Wirsing, aber die des souveränen Nationalstaates in Europa; im Zeitalter des Imperialismus übten sie nur noch eine Scheinsouveränität aus. Wirsing fügte hinzu, Deutschland müsse sich bewußt sein, „daß diese Völker mit jenem bestimmten Ressentiment behaftet sind, das einen neuen deutschen Imperialismus befürchtet. Der Geist der Hunnenrede ist dort noch weniger vergessen, als man es sich in Deutschland vorzustellen vermag.“ Es ging ihm um eine Raumeinheit, die sich vom westlich-liberalen wie vom östlich-kommunistischen Modell gleichermaßen abhob.
Die kurzfristige Raumeinheit von 1939 und den Folgejahren war eine Mischung aus Heerlager und KZ und bedeutete die Kompromittierung des Reiches als europäische Führungsmacht. Trotzdem sah das wiedervereinte Deutschland sich nach 1989 in die Mitte des von der Blockkonfrontation erlösten Kontinents gestellt: territorial, materiell, ideell. Die Erwartung war allgemein, daß Deutschland für die Osteuropäer zum natürlichen Ansprechpartner werden und als Kraftzentrum einer gesamteuropäischen Raumintegration wirken würde. Das hätte die Fähigkeit zu selbständigem und konzeptionellem Handeln erfordert. Doch schnell zeigte sich, daß die Bundesrepublik sich mit dem Beitritt der DDR politisch erschöpft hatte. Statt Europa zu gestalten, strebte sie ein „europäisches Deutschland“ an, das in einem imaginierten Europa verschwinden sollte. Die D-Mark wurde preisgegeben in der naiven Erwartung, ein Mehr an (zunächst west-)europäischer Gemeinsamkeit zu stiften. In der Wirklichkeit hat die Bundesrepublik sich damit externen Egoismen ausgeliefert und jede Gestaltungsmacht aus der Hand gegeben.
Den östlichen Nachbarn gegenüber herrschte eine Melange aus herablassender Generosität und penetranten Schuldbekenntnissen. Typischerweise wurde in Deutschland zuerst die eigene Pflicht zur Wiedergutmachung und Entschädigung diskutiert. Unter Berufung auf die „geschichtliche Verantwortung“ wurde eine merkwürdige Geschichtslosigkeit praktiziert. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland und Mittelosteuropa war schließlich mit einer unbezifferbaren Vermögensübertragung verbunden gewesen. Aus der DDR waren Reparationen im beispiellosen Ausmaß abgeflossen, und die Bundesrepublik hatte gleichfalls Zahlungen in Milliardenhöhe geleistet. Ihre Beflissenheit brachte der vergrößerten Republik keinen Respekt ein. Sie legte vielmehr ihre moralische Erpreßbarkeit und politische Schwäche offen, die bis heute zu immer neuen Forderungen animieren.
Im deutschen und europäischen Interesse war die Verknüpfung der eigenen Wirtschafts- und Finanzkraft mit den natürlichen Ressourcen Rußlands. Sie hätte Europa auf Augenhöhe zu den USA gehoben. Gleichzeitig hätte Deutschland im Blick behalten müssen, daß die Polen, die Balten und die anderen Völker des ehemaligen Ostblocks den verwundeten russischen Bären weiterhin fürchteten. Eine Raumintegration hätte ihnen glaubhaften – und das heißt auch: militärischen – Schutz vor möglichen russischen Pressionen bieten müssen. Dem stand der weltfremde Pazifismus entgegen, der die BRD beherrschte.
Der 1998 ins Amt gekommene Kanzler Gerhard Schröder proklamierte das neue „Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation“, denn „auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns um so besser trauen können, je mehr wir Deutsche selber unserer Kraft vertrauen. Es waren in der Vergangenheit immer die gefährlichen Schieflagen im deutschen Selbstbewußtsein, die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben.“ Leider zog er aus der richtigen Erkenntnis die falschen Schlüsse, indem er eine intime Nähe zu Rußland suchte, ohne auf die Empfindlichkeiten der ehemaligen Ostblock-Staaten Rücksicht zu nehmen. Das weckte dort die Befürchtung, Deutschland könnte auf ihre Kosten ein deutsch-russisches Agreement ähnlich dem praktizieren, das Johannes Barnick 40 Jahre zuvor unter ganz anderen Umständen vorgeschlagen hatte. So richtig es war, den Irakkrieg abzulehnen und gegen den Kurs der USA zu opponieren, hätten Warschau, Prag und Budapest konsultiert werden müssen, anstatt sie mit einem deutsch-französisch-russischen Schulterschluß vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Auch der Widerstand der Osteuropäer gegen das Nordstream 2-Projekt war vorhersehbar. Er hätte sich durch eine Einladung zur Teilhabe vielleicht vermeiden lassen. Das von Gerhard Schröder zelebrierte Selbstbewußtsein wirkte eher halbstark als erwachsen, wie ein auftrumpfender Wilhelminismus von links. Und die „Hunnenrede“ findet bis heute ihren Nachhall in den moralischen Belehrungen an die Adresse der Osteuropäer. Das alles hat den Ressentiments, von denen Wirsing 1932 schrieb, neues Futter gegeben und die Länder Ost- beziehungsweise Zwischen-europas darin bestärkt, sich unter die Fittiche der USA zu begeben. Ein gemeinsames Konzept der EU, um den Ukraine-Konflikt einzuhegen und den Kriegsausbruch zu verhindern, konnte so nicht zustande kommen.
Jüngst wird die Intermarium-Idee eines EU-internen östlichen Staatenbündnisses zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria als ideeller, politischer und geostrategischer Jungbrunnen für Europa beschrieben. Doch man täusche sich nicht. Es geht darum, die im Ukraine-Konflikt entstandene Situation zu nutzen, um das militärische Interesse der USA in ein dauerhaftes Engagement in Osteuropa zu überführen. Es würde sich – über die Ukraine hinaus – um ein faktisches US-Protektorat handeln. Der US-General a.D. James L. Jones vom „Atlantic Council“ meint dazu: „Die Art und Weise, wie die Mittel- und Osteuropäer die Welt und die Bedrohungen, die ihnen begegnen, betrachten, paßt viel besser auf die Art und Weise, wie die Amerikaner die Welt betrachten(...). Besser als die Art und Weise unserer traditionellen westlichen Verbündeten.“ Für Deutschland und Westeuropa wäre das die Wiederkehr der Schütterzone. In den Äußerungen des tschechischen Präsidenten ließ sich bereits ein tektonisches Rumoren vernehmen.
Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die gesellschaftlichen Folgen des Corona-Regimes („Kontrollierte neue Wirklichkeit“, JF 8/22).