Dem deutschen Bildungsroman in der Tradition von Goethes Wilhelm Meister wird gerne vorgeworfen, daß er sich vorzugsweise mit der inneren Entwicklung seines Protagonisten beschäftigt und nicht mit dessen gesellschaftlichem Bewußtsein. Das Innen wird schnell mit der Innerlichkeit verbunden, die als deutsche Besonderheit höchst verdächtig ist, weil sie angeblich zu geistiger und politischer Bequemlichkeit führte, zur berüchtigten deutschen Gemütlichkeit.
Das ist ein recht fragwürdiges Urteil. Schließlich war Goethe, als er „Wilhelm Meister“ schrieb, ein führender Beamter, der in engem Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben stand und sich in ihm – übrigens auch als Politiker – bewähren mußte. Die Umwege, auf denen Wilhelm Meister zur Erkenntnis seiner bürgerlichen Bestimmung gelangte, ergaben sich aus den Unzulänglichkeiten einer Gesellschaft, die in Unordnung geraten war. Deswegen ist er aufgefordert, über sich nachzudenken und seine Möglichkeiten in einer Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten ist und gar nicht weiß, wie oder ob sie überhaupt wieder zu einer neuen Ordnung finden könne.
Gottfried Keller, der in der Tradition Goethes mit dem „Grünen Heinrich“ in seiner endgültigen Fassung 1880 dessen Weg zu innerer Tüchtigkeit beschrieb, hatte als Staatsschreiber in Zürich von 1861 bis 1876 ein wichtiges Amt inne, das einen umsichtigen Mann erforderte, der sich in der Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und seinem lebendigen Teil bewährte. Zu einem solchen Manne wollte Heinrich werden, nachdem er erkannt hatte, daß die Kunst und die Schönheit zwar hohe und öffentliche Ziele waren, aber seine Begabung für deren Ansprüche nicht ausreichte. Doch mit Rat und Tat könne er in der Verwaltung für Harmonie und gute, also auch gefällige Ordnung, im übersichtlichen Raum seiner Stadt und seines Kantons sorgen.
Schönheit im Sinne Schillers ist die Voraussetzung zur Freiheit
Mit seinem Roman veranschaulicht Gottfried Keller seine eigenen Unsicherheiten, die ihn einst in die Irre führten und ihm dennoch zum Heil ausschlugen. Er wollte als Maler die Gestalt des Menschen künstlerisch erfassen. Sein Studium des äußerlichen Menschen führte ihn zu seinem Wesen, das sich lebendig im Zusammensein und im Beruf entfalte. Der Grüne Heinrich und Gottfried Keller widmeten sich dem öffentlichen Dienst und fanden darin zu ihrer wahren Bestimmung.
Der Wunsch, über die Schönheit auf die Mitbürger und Mitmenschen bildend zu wirken, hatte beiden dazu verholfen, in der Schönheit im Sinne Schillers die Voraussetzung zur Freiheit zu sehen. Denn nur die Schönheit verhilft dem Denken zu Vollkraft und Ebenmaß, worauf die Freiheit angewiesen ist, will sie nicht in Willkür ausarten. Die sittliche Freiheit in der Kunst und im bürgerlichen Freistaat bedarf innerer Tüchtigkeit, um in ungetrübter Frische wohltätig wirken zu können. Diese innere Ordnung bewahrt den Künstler wie den tätigen Bürger davor, sich in Spekulationen zu verlieren und mit Pfuscherei geistige und praktische Verwirrung zu stiften. Die Pflicht eines jeden Menschen besteht darin, zur inneren Ruhe zu kommen und sich nicht von den rasch wechselnden Aufgeregtheiten mit ihren Meinungen und Forderungen aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Der freie Mensch soll über den zufälligen Dingen mit deren „Sachzwängen“ stehen. Diese Unabhängigkeit ermöglicht es ihm, darauf zu achten, daß die Proportionen gewahrt und Übertreibungen vermieden werden, die Mitbürger dazu verführen können, statt ihrer Urteilskraft zu vertrauen, dem Druck von Parteigesinnungen nachzugeben und damit ihren Geist gefangennehmen zu lassen.
Gottfrieds Kellers „Grüner Heinrich“ ist ein das gesamte Leben einbeziehender Bildungsroman und insofern eine Aufforderung zu politischer Bildung, wenn man sie im klassischen Sinne als Paideia wie die Athener begreifen möchte, als Erziehung zu geistiger Selbständigkeit. Denn sie befähigt jeden dazu, sofern er es will, seiner Aufgabe gerecht zu werden, an dem, was alle angeht, aktiv teilzunehmen und das Allgemeinwohl vor Projekteschmieden zu schützen, die mit ihren der Wirklichkeit entrückten Konstruktionen die Bürgerschaft und deren Zusammenleben durcheinanderbringen.
Eine solche Bürgerlichkeit der Mitbestimmung, an die der klassisch gebildete Gottfried Keller dachte, wird nicht über theoretische Schulung, sondern im tätigen Leben erworben, mitten unter den wirklichen und nicht gedachten Menschen stehend, alles, was sich regt, aufmerksam zu beobachten und nicht schnellfertig zu beurteilen, um das Notwendige fördern und Unnützes oder Schädliches abwehren zu können. Eine solche bürgerliche Tüchtigkeit setzt die Fähigkeit voraus, die Geister zu unterscheiden, eine Tugend, die nur im dramatischen Austausch des einzelnen mit den anderen, der Gemeinschaft, geübt und nicht über Bücher und Broschüren gelernt werden kann.
Das erfuhr Heinrich zuerst in einem Traum, der den mit sich unzufriedenen Künstler auf die historische Bedingtheit des Lebens verwies, auf die er vorerst nur unzulänglich vorbereitet worden war. Ein welterfahrenes und beredtes Roß, wie der weise Kentauer Chiron im Mythos, bringt ihn mitten im Gebirge zu einer prächtigen Brücke mit Säulengalerien, die über einen Abgrund errichtet worden ist. Auf dem Weg dorthin bemerkte Heinrich überall funkelnde Edelsteine. Das Pferd erklärt ihm auf seine Frage: „Das sind nur die guten Dinge und Ideen, welche der Boden der Heimat in sich schließt, und die derjenige herausklopft, der im Lande bleibt und sich redlich nährt.“
Die Brücke über den Abgrund der Zeiten
Diesem Fundament seiner Existenz hatte sich der vagabundierende Heinrich entfremdet. In den Säulenhallen künden Bilder von der gesamten Geschichte des Landes und aller Tätigkeiten seiner Einwohner. Das abgeschiedene Volk auf den Gemälden schien mit dem lebendigen, das auf der Brücke verkehrte, eins zu sein, ja manche der gemalten Figuren traten aus ihrem Kunstreich heraus und vermischten sich mit den Lebendigen, während von diesen einige in die Gemälde schlüpften. Die Mannigfaltigkeit der menschlichen Berufe und Temperamente, der ununterbrochene Austausch des gemalten und des wirklichen Lebens auf dieser Brücke, ließen Vergangenheit und Zukunft wie ein Ding erscheinen.
Dem sich wundernden Heinrich deutete das gelehrte Roß dies muntere Treiben: „Dies nennt man die Identität der Nation.“ Das dauernde Werden aus dem Gewordenen veranschaulicht die Brücke über den Abgrund der Zeiten, ein Bild für die Einheit von Vergangenem und Künftigem. Diese Übereinstimmung wirkt während der flüchtigen Gegenwarten in immer neuen Möglichkeiten, die sich als Glied an andern in einer Kette fügen. Solange dieser lebendige Zusammenhang gewahrt bleibt, kann die Brücke nicht einstürzen. Sie und die Leute auf ihr machen die Nation aus und erhalten deren Identität. Die Menschen und nicht die Zeit sind das bewegliche Element. „Die Zeit geht nicht, sie stehet still, / Wir ziehen durch sie hin“, woran Gottfried Keller in einem Gedicht erinnert. Die Menschen sind die Zeit und verändern sie, sind sie gut, so sind auch die Zeiten gut, verhalten sie sich töricht, gerät auch die Zeit aus ihrem Rhythmus. Deswegen kommt es auf die innere Verfassung an. Deshalb muß die Bildung sich erst einmal nach innen wenden, um den Menschen reif zu machen für ein gelungenes Leben, und ihn in den Stand zu setzen, innerhalb der staatsbürgerlichen Verfassung diese durch seine Mitsprache und Mitarbeit lebendig zu erhalten, was auch bedeuten kann, sie vor dem Erstarren zu bewahren, sie also dem Wollen des stets beweglichen Bürgers anzugleichen.
Nach seinem Traum, auf seiner Rückkehr aus München, der Kunststadt, in die Wirklichkeit, geprägt von Herkommen, Sitte, Lebensformen und der alten, gar nicht selbstverständlichen Freiheiten, verweilt er einige Wochen auf dem Schloß eines bayerischen Grafen. Er ist der letzte seines Geschlechtes, was er nicht sonderlich bedauert, weil er ohnehin seines äußerlichen Adels müde ist und gar nichts dagegen einzuwenden hat, wenn der Adel in einer neuen Volksgemeinschaft aufgeht.
Der Adel der Gesinnung, auf den auch die neue, bürgerliche Gesellschaft angewiesen ist, äußert sich im Respekt vor den Überlieferungen, vor den durch Brauchtum über Jahrhunderte bewährten Vorstellungen und Idealen, deren Zeugnisse überall in der Gegenwart veranschaulichen, daß wer die Zeit meistern will, nicht vergessen darf, daß es vor ihm auch schon Meister gab.
Das Gegenstück zu dieser historisch vertieften Lebenserfahrung ist ein aus dem mittleren Deutschland weggelaufener Schullehrer, Herr Peter Gilgus, ein Apostel des Atheismus, der mit Gott aus der Welt auch sämtliche Erinnerungen an die Vergangenheit wegen ihrer „unwissenschaftlichen“ Geistlosigkeiten verbannt wissen will. Er ballt die Faust gegen alle früheren, nun Geschichte gewordenen Überzeugungen und Hoffnungen, im Grunde gegen die Fülle des Lebendigen, die von den unerschöpflichen und unter sich verschiedenen einzelnen erzeugt ist und weiterentwickelt wird.
Heinrich hatte am Ende seines Traumes weit über die Schweiz geschaut und sah auf grünen Fluren Scharen von Leuten, die sich zu heiteren Festen sammelten und zu verschiedenen Handlungen und Lebensübungen verbanden, die Freude stifteten und eine ganz andere Sicherheit verkündeten, nämlich, daß die Freiheit ohne Freude und Schönheit eine trübsinnige und despotische Veranstaltung sei.
Höhepunkte in Heinrichs Werdegang ist ein vaterländisches Fest in der Erinnerung an Wilhelm Tell und ein großer Umzug in München zu Ehren von Albrecht Dürer, der Nürnberger Meistersinger und städtischer Freiheit in Schönheit. Jede wahre Volksrede, ob die Tells und seiner Schweizer im Festspiel oder erfindungsreicher Nürnberger ist doch nur, wie er meinte, „ein Monolog, den das Volk selber hält. Glücklich aber, wer in seinem Lande ein Spiegel seines Landes sein kann, der nichts weiter spiegelt als das Volk.“ Das zeichnete den Republikaner aus aufgrund einer inneren Bildung und ästhetischen Erziehung. Mit solchen Bekenntnissen wird Heinrich heute ein Beobachtungsfall für den Verfassungsschutz. Ein Grund mehr diesen gerade auch politischen Bildungsroman immer wieder zu lesen.
Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. Deutscher Klassiker Verlag (Suhrkamp), Berlin, gebunden, 1.395 Seiten, 22 Euro