Das Verhältnis von Fleisch und Männlichkeit ist im Wandel“, freut sich Martin Winter. Für die auf Ernährungssoziologie und Geschlechterforschung spezialisierte Nachwuchskraft am Institut für Soziologie der TU Darmstadt gerät damit endlich eine im 19. Jahrhundert errichtete Bastion des „Patriarchats“ ins Wanken. Werde doch die in Generationen verfestigte „vermeintliche Selbstverständlichkeit“, der zufolge jeder Mann „Fleisch auf dem Teller braucht“, seit der Jahrtausendwende mehr und mehr in Frage gestellt (Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 3/2022).
Befördert durch die ernährungswissenschaftliche Fachdiskussion, hatte sich im Zeitalter der Hochindustrialisierung die Vorstellung durchgesetzt, daß Fleischkonsum, Muskelaufbau und männliche Leistungsfähigkeit untrennbar verknüpft seien. Seitdem galt Fleisch, wie der französische Meisterdenker Pierre Bourdieu in seinem Klassiker über „Die feinen Unterschiede“ (1987) darlegt, als das Kraft, Stärke, Gesundheit schenkende „Gericht der Männer schlechthin“. Daher durften privilegierte bürgerliche Männer – bei Proletariern kam seltener Fleisch auf den Tisch – gern zweimal zugreifen, während ihre Frauen sich mit einem Appetithappen begnügen mußten.
Diese Verknüpfung von Fleisch und Männlichkeit hat sich aus Winters Sicht in nivellierten Mittelstandgesellschaften nach 1945 kulturell stabilisiert. Erst unter dem Zangenangriff der ökologischen und der Gender-Bewegung sei diese „Normalität“ erodiert. Während die hysterischen Warner vor der Klimakatastrophe die agrarindustriell betriebene Fleischerzeugung aus Massentierhaltung als einen der gefährlichsten CO2-Emittenten anprangern, ziehen die Apostel der Geschlechtergerechtigkeit unter der Gender-Fahne gegen Mann und Frau als antiquierte Rollenmuster zu Felde.
Durchaus mit Erfolg. Stellte die Soziologin Monika Setzwein in einer Studie über „Soziale Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext“ noch 2004 fest, die Ansicht, Männer, die sich vegan ernährten, seien „weichliche Schwächlinge“, sei weit verbreitet, durfte der Fleischkonzern „Rügenwalder Mühle“ 2017 den als „Tatort“-Kommissar bekannt gewordenen „echten Kerl“ Wotan Wilke Möhring in einem Werbefilm als Identifikationsfigur präsentieren, um „Flexitarierer“ zu ködern, Freizeit-Vegetarier, die nicht täglich oder regelmäßig Fleisch konsumieren. Fürchten brauchte man den Spott, es sei „weibisch“, die von Möhring gebratenen fleischfreien Frikadellen zu verzehren, da schon lange nicht mehr.
Ökologisches Bekenntnis zur Rettung des Regenwaldes
Denn der Anteil derer, die sich fleischfrei ernähren, war seit den achtziger Jahren, als weniger als ein Prozent der Bundesbürger sich als Vegetarier bezeichneten, bis 2010 auf zehn Prozent gestiegen. Nach der letzten Allensbach-Umfrage von 2020, die 9,2 Prozent Vegetarier und 1,6 Prozent fundamentalistisch alle Tierprodukte verschmähende Veganer ausweist, verharrt die Zahl der Fleischmuffel in der Bevölkerung allerdings auf dem Niveau von 2010, obwohl am vegetarischen und veganen Ernährungs- und Lebensstil heute kein Odium des „Weibischen“ haftet. Im Gegenteil: Die Produktdesigner und Marketingstrategen der
Fleischindustrie hätten es, so demonstriert der wegen dieses Resultats seiner Recherchen und Analysen enttäuscht wirkende Jung-Soziologe Winter, einerseits geschafft, den Verzehr von Tofu, Seitan und Soja zu entideologisieren. Einen wichtigen Beitrag dafür habe das Kochbuch „Vegan for fun“ (2011) des damaligen „Nahrungs-Extremisten“ und späteren „Querdenkers“ Attila Hildmann geleistet. Der türkisch-deutsche Koch, von dessen „rechtsextremen Positionen und Aktivitäten“ sich Winter karrierebewußt natürlich „auf das schärfste distanziert“, habe sich von der puristischen, streng ethisch-politischen Überfrachtung des Veganismus verabschiedet und einen Trend gesetzt, indem er diesen Ernährungsstil im „Bereich des Normalen und der Mitte verortete“.
Wer Fleischalternativen kauft, soll sich daher nicht länger zu einem ökologischen Bekenntnis zur Rettung des Regenwaldes gedrängt fühlen. Sie sind auch keine Symbole mehr im Kampf gegen die Fleischindustrie, sondern werden weitgehend als „normale und alternative“ Proteinquellen wahrgenommen. Trotzdem sei die historische Verkettung von Fleisch und Männlichkeit erhalten geblieben. Was nicht passiert wäre, hätten sich die Werbefachleute von Rügenwalder Mühle & Co. an der Ernährungswissenschaft orientiert. Deren Empfehlungen für die tägliche Proteinversorgung leiten sich allein vom Körpergewicht, nicht vom Geschlecht ab. Männer und Frauen unter 65 Jahren benötigen von diesem quasi geschlechtsneutralen Nährstoff gleichviel: 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht täglich.
Ungeachtet dessen stelle die Vermarktungsstrategie wie beim Fleisch aber wieder auf den Muskelaufbau und damit auf den starken Körper ab, um die Botschaft zu vermitteln, daß veganes Essen und schwere körperliche Arbeit sich nicht ausschließen. Nach dem Slogan „Vegan für harte Kerle“ – weil auch diese fleischlose Variante proteinhaltigen Essens, soweit durch Fitneßtraining flankiert, „männliche Körper mit den richtigen Muskeln an den richtigen Stellen“ forme.
Angesichts von soviel ungebrochener Männlichkeit zieht Winter eine eher nüchterne Bilanz der vegetarisch-veganen Ernährungswende: So wie sie bisher ablaufe, verdränge sie im ernährungskulturellen Diskurs erstens die ökologische Notwendigkeit, sich aus Rücksicht auf Natur und Tierwohl fleischlos zu ernähren, und zweitens fördere sie den Konsum von Fleischalternativen, ohne daß dies den „normalen“ Fleischkonsum von 90 Prozent der Bevölkerung beeinträchtige.