Es sind Bilder, die der Kaukasus seit dem Ende des Tschetschenienkriegs nicht mehr gesehen hat. Tausende Autos, die sich auf der Flucht stauen, Zehntausende Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, die meisten für immer. Auf fast hundert Kilometern stehen die Autos, vom Stadtrand Stepanakerts – der Hauptstadt von Bergkarabach – bis zur armenischen Grenze, 120.000 Menschen sind auf dem Weg oder haben sich bereits in den letzten Tagen auf den Weg gemacht. Ein Exodus in einem Landstrich, der vor Kriegsbeginn knapp über 146.000 Menschen gezählt hat.
Viele dürften bereits vor der jüngsten Eskalation gegangen sein, zu aussichtslos war die Lage in der belagerten Separatistenrepublik, seitdem im Dezember 2022 die Kräfte Aserbaidschans die Schlinge um den Hals der Armenier in Bergkarabach immer enger gezogen haben. Im Sommer, kurz vor Beginn der aserbaidschanischen Offensive im September dieses Jahres, verschärfte sich die Lage durch die aserbaidschanische Blockade des Latschin-Korridors. Diese etwa 60 Kilometer lange Straße ist der einzige Verbindungsweg von Armenien zu der überwiegend armenisch besiedelten Region Bergkarabach. Die Blockade dieses Wegs durch Aserbaidschan hatte für die Armenier in Bergkarabach dramatische Folgen. Luis Moreno Ocampo, der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, sprach bereits im August von einem systematischen „Aushungern der Bevölkerung“ und erhob schwere Vorwürfe gegen die aserbaidschanische Regierung. „Es gibt keine Krematorien und es gibt keine Machetenangriffe. Der Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermordes“, schrieb er in einem Bericht und prognostizierte: „Ohne sofortige dramatische Veränderungen wird diese Gruppe von Armeniern in wenigen Wochen vernichtet sein.“ Inzwischen ist der Korridor wieder geöffnet für Armenier, die die Region verlassen wollen.
In die mißliche Lage gekommen war das von den Armeniern „Arzach“ genannte quasistaatliche Gebilde im Krieg 2020. Die sorgfältig eingegrabenen, auf einen Stellungskrieg vorbereiteten Armenier bekamen am eigenen Leib die neue Realität des drohnengestützten Bewegungskriegs zu spüren. Binnen weniger Wochen läutete Aserbaidschan mit türkischen Waffen ein neues Zeitalter ein und beendet drei Jahre später innerhalb von 24 Stunden zwischen dem 19. und dem 20. September 2023 die Existenz der „Republik Arzach“.
Wie lange Armenier in dem Landstrich schon die Bevölkerungsmehrheit stellen, ist umstritten, Klöster und Kirchen zeugen zumindest von einer langen armenischen Besiedlungsgeschichte, die sehr bald enden dürfte. Seit dem Ende der Kampfhandlungen verhandeln Teile der ehemaligen Regierung der „Republik Arzach“ mit der aserbaidschanischen Seite um mögliche Autonomierechte für die armenische Bevölkerung. Den Exodus des Großteils der Armenier dürften diese Verhandlungen beschleunigen. Selbst die Armenier, so scheint es, glauben nicht mehr an den Traum eines wenigstens autonomen Bergkarabach.
Armeniens Regierung hat geopolitisch ein schwaches Blatt
Das liegt auch an der geostrategischen Umgebung, in der sich das Land seit dem Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine befindet. Diese hat wenig mit den frühen Zweitausendern zu tun, an die man sich in Armeniens Hauptstadt Jerewan so gewöhnt hat. Denn Bergkarabachs Situation hängt an der strategischen Lage, in der sich Armenien selbst befindet – und die hat sich verschlechtert. Garantierte früher noch Moskau Überleben und Unabhängigkeit der Armenier, ist das kleine Volk im Kaukasus nun zunehmend auf sich allein gestellt.
Rußland liefert sich mit dem Westen einen verlustreichen Krieg in der Ukraine, die Türkei mag hingegen wirtschaftlich angeschlagen sein, verfügt aber über militärische Machtmittel, die in
Zentralasien und dem Nahen Osten ihresgleichen suchen. Zur Freude der Aserbaidschaner, die zuletzt sechzig Prozent ihrer Rüstungsgüter aus dem Bruderland am Bosporus bezogen und zum Leidwesen der Iraner, die den Aufstieg des historischen Rivalen mit Sorgen betrachten. Dort regte sich denn auch am meisten Widerstand gegen den aserbaidschanischen Vormarsch. Eine „Veränderung der tausendjährigen Grenze zwischen Armenien und dem Iran“ werde man nicht zulassen, sagte zuletzt Irans Staatschef Ali Khamenei. Tatsächlich pflegen Armenien und der Iran seit geraumer Zeit freundschaftliche politische Beziehungen, doch auch in Teheran konnte der Kollaps Bergkarabachs nicht vermieden werden. Denn das System der Islamischen Republik steht auf tönernen Füßen, nicht zuletzt die aserbaidschanische Bevölkerungsmehrheit in zwei iranischen Provinzen bedroht den mühsam austarierten Ausgleich im Vielvölkerstaat.
Hinzu kommt das Verhalten des armenischen Staatschefs Nikol Paschinjan, der versuchte, sich an das weit entfernte Washington anzunähern, was zum Unwillen Rußlands beigetragen haben dürfte, Paschinjans Landsleuten in Bergkarabach zu helfen. Doch aus Amerika kommen nur Ermahnungen an Aserbaidschans Staatschef Ilham Alijev, von echter Hilfe keine Spur. Armenien dürfte für Biden zu weit weg liegen. Zur Einhegung russischer Ambitionen hat sich die Ukraine bereits als zu nützlich erwiesen. Daran ändert auch Paschinjans verzweifelte Ankündigung nichts, man werde sich künftig hinsichtlich seiner Militärbündnisse „anderweitig“ umsehen.
Armenien ist Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, einer von Rußland dominierten Gruppe von sechs ehemaligen Sowjetstaaten. Diese Vereinbarung wertet einen Angriff auf ein Mitgliedsland als einen Angriff auf alle. Armenien hatte in dem Konflikt um Bergkarabach auf die Unterstützung des Militärbündnisses gehofft. Rußland argumentierte jedoch, die Regierung in Jerewan selbst erkenne Bergkarabach als Teil Aserbaidschans an und verweigerte die Hilfe für Armenien.
In Baku hingegen dürfte die Stimmung gut sein. Aserbaidschan muß auch auf dem diplomatischen Parkett keine Gegenoffensive fürchten, für die EU ist das Land als Energielieferant seit dem Wegfall des russischen Pipelinegases unersetzbar. In Ankara ist mit Präsident Erdoğan ein Freund Bakus im Amt, und selbst Israel hat sich als zuverlässiger Partner erwiesen, was auch die Verbindung nach Washington verbessern dürfte, sollte man sich dort doch noch für schärfere Worte entscheiden. Selbst in Peking schätzt man die Stabilität, die Alijev für die neue Seidenstraße verspricht.
Paschinjan dürfte bei seiner Suche nach Verbündeten auf verschlossene Türen stoßen, sofern ihm noch Zeit dafür bleibt. Den Untergang Bergkarabachs werden die Armenier vor allem ihm anlasten. Kurz nach der Kapitulation der „Republik Arzach“ kam es in Jerewan zu Ausschreitungen, die Ankunft Zehntausender Flüchtlinge aus Stepanakert dürfte die Stimmung nicht beruhigen.