© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/23 / 29. September 2023

Von Enten und Leoparden
Ukraine-Krieg: Moskau und Kiew betreiben gleichermaßen Propaganda. Verläßliche Meldungen zu finden, ist äußerst schwierig
Marc Zoellner

Starben deutsche Soldaten während eines Kampfeinsatzes in der Ukraine? Mit dieser aufsehenerregenden Schlagzeile machte die staatliche russische Nachrichtenagentur „RIA Novosti“ Ende vergangener Woche auf sich aufmerksam. Demnach hätte ein russischer Aufklärungstrupp nahe der ukrainischen Stadt Saporischschja einen deutschen „Leopard“-Kampfpanzer zerstört. Bei der Durchsuchung des Wracks, so der unter dem treffenden Rufzeichen „Legende“ operierende Kommandeur der russischen Truppe, sei neben drei toten Besatzungsmitgliedern des Panzers auch ein schwer verwundeter Soldat angetroffen worden. Dieser hätte auf deutsch mit „Nicht schießen!“ auf sich aufmerksam gemacht. Nur wenige Minuten nachdem er behauptet habe, der Bundeswehr anzugehören und seine Teilnahme am Ukraine-Krieg zu bereuen, sei auch dieser vierte Soldat seinen Verletzungen erlegen, erzählte der Kommandeur weiterhin. Neben russischen Militärbloggern griffen auch mehrere internationale Zeitungen unter anderem aus Indien und dem Libanon diese Nachricht eilends auf.

Rußland meldet mathematisch unmögliche ukrainische Verluste

Doch wie es scheint, waren sämtliche beteiligten Medien einer ausgemachten Zeitungsente aufgesessen: Auch Tage später konnte das russische Militär den Vorfall weder mit Aufnahmen des zerstörten Panzers noch mit den Namen der angeblichen deutschen Besatzung verifizieren. Auch eine Bestätigung seitens des russischen Verteidigungsministeriums blieb bislang aus. Das berichtete zwar von zwei in der Vorwoche zerstörten „Leopard“-Kampfpanzern – allerdings aus dem Frontabschnitt um Kupjansk im äußersten Nordosten der Ukraine, rund dreihundert Kilometer von Saporischschja entfernt.

Die Lektion dieser Geschichte ist unmißverständlich. Kriegspropaganda um Gefechtserfolge ist meist auf Sensationsgier aus und bedarf vor ihrer Verbreitung stets einer genaueren Überprüfung. Speziell im festgefahrenen Ukraine-Krieg erhoffen beide Kriegsparteien, sich mit ihren 

jeweiligen Siegesnachrichten zu übertreffen. So hatte die staatliche russische Nachrichtenagentur „TASS“ erst Anfang September berichtet, die in Deutschland ausgebildete „47. Mechanisierte Brigade“ der Ukraine habe in kürzester Zeit des Einsatzes bereits „Tausende an Personal“ verloren, und berief sich auf einen angeblichen Beitrag der britischen Tageszeitung The Times – der allerdings gar nicht existiert. Die gesamten ukrainischen Material-Verluste beziffert das russische Verteidigungsministerium am Montag dieser Woche unter anderem auf 12.104 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 1.155 Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesysteme, 250 Helikopter und 477 Kampfflugzeuge. Allein letzteres ist die dreifache Anzahl dessen, was die Ukraine vor dem 24. Februar 2022, dem Tag des Kriegsbeginns, überhaupt an Luftwaffe besessen hatte. Zum Vergleich kommt das US-Magazin Forbes in seiner letzten Zählung von Anfang August auf etwa 69 zerstörte ukrainische Kampfflugzeuge und Bomber. 

Zur Vorsicht geraten ist allerdings auch bei ukrainischen Erfolgsmeldungen zum Kriegsverlauf: Die lang erwartete und umfangreich auch von westlicher Seite herbeigeschriebene Sommeroffensive der ukrainischen Armee konnte bis jetzt die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen. So bemühen sich ukrainische Späh- und Marinetrupps am überfluteten Dnepr östlich der Hafenstadt Cherson seit Wochen um die Errichtung von Brückenköpfen, um dauerhafte Kontrolle über das Ufer zu erlangen. 

Große Teile des Flußdeltas gelten mittlerweile als gesäubert. Doch insbesondere die Vorstöße in die Kleinstadt Oleschky scheiterten bislang ausnahmslos.

Polens Unterstützung bröckelt in Wahlkampfzeiten

Am Frontabschnitt südlich von Saporischschja gelang es ukrainischen Truppen indessen, den ersten Verteidigungswall der berüchtigten „Surowikin-Linie“ zwischen den Dörfern Robotyne und Werbowe zu überwinden. In nachfolgende Bereiche untergliedert, besteht diese Linie auf insgesamt mehreren hundert Kilometern Länge aus einem dichten Netzwerk von Schützengräben, Minenfeldern und sogenannten „Drachenzähnen“. Das sind gegen Panzervorstöße erdachte Betonkonstruktionen in Pyramidenform. Benannt ist die Verteidigungslinie nach dem russischen Armeegeneral Sergei Surowikin, dem ehemaligen Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine, der aufgrund seiner guten Kontakte zur „Gruppe Wagner“ nach deren versuchtem Aufstand vom 24. Juni im Kreml in Ungnade gefallen sein soll.

Der an der Surowikin-Linie geplante Vorstoß der Ukrainer sollte als Bestandteil der Sommeroffensive bis Jahresende eigentlich bis zum Asowschen Meer vorstoßen, um die Halbinsel Krim von russischem Truppennachschub abzuschneiden. Bislang sind jedoch nur Einzelerfolge erkennbar. Für einen spürbaren Vorstoß braucht Kiew laut Selbstauskunft dringend weitere schwere Waffensysteme samt Munition von seinen westlichen Verbündeten.

Doch mit denen herrschte in der vergangenen Woche Bruderzwist auf diplomatischem Parkett. Als deutliche Warnung hatte die polnische Regierung dieser Tage gedroht, der Ukraine keine weiteren Waffen liefern zu wollen. Grund war ein Streit um ukrainische Agrarexporte, bei denen Polen eine Überflutung des eigenen heimischen Marktes zu ukrainischen Dumpingpreisen befürchtete. Neben Polen sperren sich auch Ungarn und die Slowakei gegen ukrainische Billigimporte.

Gegen dieses Importverbot hatte Kiew bei der Welthandelsorganisation eine Konsultation zur Klageeinreichung beantragt, sie später allerdings wieder zurückgezogen, maßgeblich aufgrund der polnischen Zusage, einen Korridor für ukrainische Getreidelieferungen in Drittländer bereitzustellen. Von Kommentatoren wird Warschaus Drohung als taktisches Manöver der konservativen Regierung im Wahlkampf zur polnischen Parlamentswahl gewertet, die am 15. Oktober stattfinden wird. „Die Schlußfolgerung scheint zu sein, daß sich die polnische Regierung insbesondere nach den Wahlen etwas beruhigen könnte“, vermutet beispielsweise die britische Tageszeitung Financial Times.

Auch Warschau, das mit anderthalb Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine stark belastet ist, hat – gerade in Wahlkampfzeiten – ein starkes Eigeninteresse an öffentlichkeitswirksamen ukrainischen Siegen. Das weiß auch Kiew, weshalb es zuletzt auf immer waghalsigere Militäraktionen im Gebiet rund um die Krim setzte.

Systematisch wurde hier von Eliteeinheiten die russische Luftabwehr ausgeschaltet, später neben einem Landungsschiff gar ein russisches U-Boot beschädigt und vergangenen Freitag selbst das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol mit Raketen getroffen. Doch während die ukrainische Presse erst von neun, anschließend von 34 und neuestens von 62 getöteten russischen Militärangehörigen berichtet, unter denen sich sogar der Flottenbefehlshaber Wiktor Sokolow befinden soll, spricht Moskau von wenigen verletzten und nur einem vermißten Soldaten. Auch hier ist auf beiden Seiten nur schwer erkennbar, wo der tatsächliche Nachrichtengehalt aufhört und die Kriegspropaganda ihr Werk beginnt.