© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/23 / 22. September 2023

„Er riecht wieder nach Zuchthausluft“
Fünfzig Jahre nach ihrem Tod ist der autobiographisch motivierte Roman „Die Geschwister“ der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann herausgegeben worden
Jörg Bernhard Bilke

Es gab Themen in der DDR-Literatur, die von westdeutschen Lesern kaum verstanden wurden. Eines davon war die seit 1954 unter Strafandrohung gestellte „Republikflucht“, wonach es DDR-Bürgern ohne Einwilligung der Behörden nicht erlaubt war, den ungeliebten Staat zu verlassen. Durch gewaltsame Grenzdurchbrüche fluchtwilliger DDR-Bürger kam es in den Jahren 1961/89 zu Hunderten von Todesfällen an der innerdeutschen Grenze, an der Sektorengrenze in Berlin und auf der Ostsee.

Als Ulrich Arendt, Schiffsbauingenieur in Rostock, seiner Schwester Elisabeth, Malerin und Leiterin eines „Zirkels malender Arbeiter“ in einem Betrieb, Ostern 1961 seine Fluchtpläne offenbart, ist die Grenze in Berlin noch offen. Es genügt, am S-Bahnschalter in Ost-Berlin eine Fahrkarte zu lösen und man ist in wenigen Minuten in West-Berlin. Der Flüchtling muß sich dann im Notaufnahmelager Marienfelde melden und wird nach seiner Registrierung in die Bundesrepublik Deutschland ausgeflogen, wo er ein neues Leben beginnen kann.

Warum Elisabeth bestürzt darüber ist, daß Bruder Ulrich nach Ostern die Republik verlassen will, liegt an der Flucht des älteren Bruders Konrad, auch er in Rostock ausgebildeter Schiffsbauingenieur, der 1960 über West-Berlin nach Hamburg gegangen ist, wo er an einer Werft gutes Geld verdient. Ulrich, der leistungsschwachen Planwirtschaft überdrüssig, will ihm nach Hamburg folgen. Er fühlt sich gedemütigt, nachdem seine Einstellung bei einer kleinen Werft an der Elbe trotz guter Noten vom Kaderleiter abgelehnt wurde. Wahrscheinlich deshalb, so vermutet er, weil er Assistent eines Professors war, der später „republikflüchtig“ wurde.

Republikflüchtlings-Bruder als Verräter beschimpft

In ihrer Not weiß sich Elisabeth nicht anders zu helfen, als daß sie ihren Freund Joachim, einen überzeugten Kommunisten, der trotz seines jugendlichen Alters schon Werkleiter ist, einschaltet, der Ulrich stundenlang ins Gewissen redet. Von der ganzen Diskussion, an der die im Nebenzimmer wartende Elisabeth nicht beteiligt ist, erfährt der Leser nichts. Es müssen unerhört starke Argumente gewesen sein, die Ulrich davon abhalten, „die Republik zu verraten“. Wahrscheinlicher ist, daß Joachim mit einer Anzeige bei der „Staatssicherheit“ gedroht hat. Ob Ulrich nun, von der Wucht der Argumente Joachims betäubt, die Grenze zwischen „Sozialismus“ und „Kapitalismus“ nicht überschreitet, bleibt offen. Man traut ihm zu, daß er am Dienstag nach Ostern den Koffer packt und weggeht. 

Im selben Jahr 1963 erschien Christa Wolfs weit überzeugender geschriebener Roman „Der geteilte Himmel“. Hier verläßt der Chemiker Manfred Herrfurth wenige Wochen vor dem Mauerbau 1961 den Staat, enttäuscht von den Zuständen an der „ökonomischen Basis“. Seine Verlobte besucht ihn im Lager Berlin-Marienfelde, kann ihn aber nicht zur Rückkehr bewegen. Sie kehrt zur Waggonbaubrigade in Halle-Ammendorf zurück und erkrankt schwer.

In Brigitte Reimanns wirklichem Leben spielte sich das anders ab: Sie war, 1933 geboren, die Älteste von vier Geschwistern in der Stadt Burg bei Magdeburg. Bruder Lutz floh 1960 nach West-Berlin, der andere Bruder Ulrich und Schwester Dorothea blieben. In der Erzählung von 1963 trifft Elisabeth ihren älteren Bruder Konrad 1961 in einem West-Berliner Café, weil er als „Republikflüchtling“ nicht nach Burg fahren konnte. In Wirklichkeit durfte Bruder Lutz 1964 mit einer Sondererlaubnis Otto Gotsches, des Sekretärs von Walter Ulbricht, nach Burg einreisen. Am 30. Mai kam es dort zwischen den vier Geschwistern zu einer Aussprache. Am 31. Mai schrieb Brigitte Reimann in ihr Tagebuch, daß Lutz Argumente benutzte, die sie nicht widerlegen konnte. Das alles kann man nachlesen in den Geschwisterbriefen, die 2018 unter dem Titel „Post vom schwarzen Schaf“ erschienen sind. Darin erwähnt sie auch, daß sie sich jahrelang von Bruder Lutz „staatsfeindliche“ Literatur über den Schriftstellerverband nach Hoyerswerda hat schicken lassen, wo sie 1960/68 lebte, bevor sie nach Neubrandenburg umzog. Während sie ihren Bruder noch 1961 in Briefen an die Eltern als „Verräter“ beschimpfte, schrieb sie ihm 1968 nach Hamburg, daß sie mit ihm, was den Einmarsch der Truppen des „Warschauer Pakts“ am 21. August 1968 in Prag betreffe, der „gleichen Meinung“ sei und daß sie die vom Schriftstellerverband vorgelegte Zustimmungserklärung nicht unterschrieben habe.

Das Buch ist die erste Neuausgabe nach dem Tod der Autorin 1973. Handwerker fanden im Keller des Hauses Liselotte-Herrmann-Straße 20 in Hoyerswerda/Sachsen, wo sie acht Jahre lebte und im Industriekombinat „Schwarze Pumpe“ einen „Zirkel schreibender Arbeiter“ leitete, ein Manuskript mit den ersten fünf Kapiteln, unzensiert. Während der Arbeit an ihrem Text schrieb sie am 4. Oktober 1961, acht Wochen nach dem Mauerbau in Berlin, in ihr Tagebuch: „Das ist nicht der Sozialismus, für den wir schreiben wollten.“ Am 12. Dezember 1961 war dort zu lesen: „Es riecht wieder nach Zuchthausluft.“

Brigitte Reimann: Die Geschwister. Roman, herausgegeben von Angela Drescher und Nele Holdack. Aufbau Verlag, Berlin 2023, gebunden, 224 Seiten, 20 Euro