Die Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, ein amtliches Organ des Deutschen Bundestages, befaßt sich im Heft 35–36 vom 28. August 2023 ausschließlich mit Chile. Das Editorial nennt gleich den Grund für diese Themenwahl: „Vor 50 Jahren, am 11. September 1973, stürzten Teile des chilenischen Militärs die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende. Mit der Wahl Allendes stand 1970 weltweit erstmals ein bekennender Marxist an der Spitze eines demokratisch regierten Landes. Nach dreijähriger Amtszeit kam es zum Putsch: (…) Allende nahm sich das Leben, und der Oberbefehlshaber der chilenischen Armee kam an die Macht (…) Folter, politische Morde und Terror gegen Oppositionelle folgten.“ So das Bild, das seit damals im Westen über diesen Andenstaat vermittelt wird.
Im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte reiste ich kurz vor dem Fall der Berliner Mauer durch das ferne Land und fand dabei bestätigt, daß die Machthaber tatsächlich „mit Gewalt und eherner Rücksichtslosigkeit“ ihre Herrschaft ausübten. Und doch war vieles ganz anders, als ich erwartet hatte. In der deutschen Botschaft in Santiago erhielt ich eine „Länderaufzeichnung“, in der Sensationelles zu lesen stand: „Das gegenwärtige Regime kam am 11. September 1973 durch den Putsch der Streitkräfte gegen die ‘Volksfront’-Regierung Allendes an die Macht. Die Legitimation zu diesem Eingriff leitete das Militär daraus her, daß Parlament und Oberster Gerichtshof zuvor das Vorgehen der Regierung Allendes als verfassungswidrig bezeichnet hatten und daß ein Parlamentsbeschluß vom 22. August 1973 die Streitkräfte praktisch aufforderte, diesem Zustand ein Ende zu bereiten.“
Bevorstehender Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit in Chile
Wörtlich heißt es in diesem Beschluß: „Es ist erwiesene Tatsache, daß die gegenwärtige Regierung von allem Anfang an auf die Eroberung der totalen Macht ausgegangen ist in der offenkundigen Absicht, die gesamte Bevölkerung der rigorosesten politischen und wirtschaftlichen Kontrolle durch den Staat zu unterwerfen und auf diesem Wege ein Regime zu errichten, welches dem System der repräsentativen Demokratie, wie die Verfassung sie vorsieht, diametral entgegengesetzt ist. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Regierung nicht nur in vereinzelten Fällen gegen Gesetz und Verfassung verstoßen, sondern aus diesen Verstößen ein Dauersystem ihres Verhaltens gemacht (…) Auf diese Weise hat die Regierung wesentliche Elemente der Rechtsstaatlichkeit und Verfassungsmäßigkeit vernichtet.“ Auch der Oberste Gerichtshof wandte sich mit ähnlich klaren Worten an Allende. „Der Oberste Gerichtshof sieht sich zum x-ten Male veranlaßt, Sie auf das illegale Verhalten der Exekutive bei der unstatthaften Einmischung in Rechtsangelegenheiten (…) aufmerksam zu machen. Dieses Vorgehen bedeutet eine hartnäckige Auflehnung gegen gerichtliche Entscheide. Es stellt darüber hinaus schon nicht mehr nur den Ausdruck der Krise des Rechtsstaates dar (…), sondern den des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit in diesem Lande .“
In meinen Vorlesungen hier in Deutschland wurde auch das Widerstandsrecht gemäß Artikel 20 Absatz 4 unseres Grundgesetzes thematisiert: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist:“ War demnach der Sturz Allendes gerechtfertigt? – lautete eine naheliegende Frage. Unter den Hörern saßen des öfteren auch Exil-Chilenen, die verwundert waren, daß ihnen die zitierten Dokumente bis dahin vorenthalten worden waren. Dann blieben jene ohne Widerspruch, die das Widerstandsrecht nach dem Grundgesetz unter den dortigen Gegebenheiten bejahten.
Die Exilanten konnten auch bestätigen, was ich zu wissen glaubte: Sie und ihresgleichen konnten, von Ausnahmen abgesehen, ihre Heimat ohne Gefährdung durch Minen und Schießbefehl verlassen, während die mit Allende geistig verwandten marxistischen Staaten wie die DDR Flüchtlinge bedenkenlos abknallten. In Chile hatte der Diktator Pinochet das Ende seines Regimes festgesetzt und 1990 tatsächlich herbeigeführt. In Santiago konnte ich damals in Gegenwart des deutschen Botschafters über „Die Freiheit als Recht und Verpflichtung“ sprechen. Dabei zitierte ich den Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1986, Wladyslaw Bartoszewski: „Frieden ist allein durch Freiheit (…). Freiheit ist allein durch Wahrheit.“
Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaften an der Universität Bayreuth