© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/23 / 22. September 2023

Putin in der Lausitz besiegen
Das angekündigte Thema „Volksaufstände“ spielte beim Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung nur eine Nebenrolle
Erik Lommatzsch

Zum 34. Mal hatte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung am 14. und 15. September zum Bautzen-Forum geladen. Der Veranstaltungsort, das Gemeindehaus der Bautzner St. Petri-Kirchgemeinde, wird den Teilnehmern als eng in Erinnerung bleiben, der Publikumsandrang war groß. In Erinnerung bleiben wird auch, daß sich das Bautzen-Forum von seinem ursprünglichen Anliegen, der Aufarbeitung von Unterdrückung und Opposition in der sowjetisch besetzten Zone und der DDR, immer weiter entfernt. 

Angekündigt war die Veranstaltung unter dem Titel „Auf die Straße! Volksaufstände im sowjetischen und russischen Einflußbereich“ – und selbst für Themen aus dieser räumlich umfassenderen Konzeption war nur ein Teil des Programms reserviert. Im Verlauf des Forums dominierten immer wieder aktuelle Botschaften. Nahezu penetrant wurde die unbedingte Unterstützung der Ukraine im gegenwärtigen Krieg eingefordert, in jedweder Form. In anderen Kreisen wäre möglicherweise das Wort Nibelungentreue gefallen. Den – natürlich dümmlichen bis gefährlichen – „Putin-Verstehern“ war ein ganzes Podium gewidmet. Quintessenz hier: Aus Versatzstücken von Denkfiguren, die sich durch langjährige DDR-Sozialisation festgesetzt haben, wird über Umwege ein irrig-positives Rußland-Bild konstruiert. Das Bemühen um Sachlichkeit stand nicht immer im Mittelpunkt des Forums.

Abgesehen vom Grußwort des Bautzener Oberbürgermeisters, der an den 17. Juni 1953 in seiner Stadt erinnerte und daran, daß der SED-Staat keine Verbindung zur Bevölkerung mehr gehabt habe, widmeten sich lediglich zwei von vier Podiumsgesprächen den „Volksaufständen“. Eine Reihe von im hiesigen historischen Gedächtnis weniger geläufigen Erhebungen fand Erwähnung, etwa die Aufstände im tschechischen Pilsen Anfang Juni 1953, im polnischen Posen 1956, in den sowjetischen Straflagern in Workuta 1953 und im kasachischen Kengir 1954. Vom Widerstand in der Sowjetunion erfuhr die Öffentlichkeit damals kaum etwas. Mit dem Prager Frühling erklärten sich im August 1968 acht Demonstranten auf dem Roten Platz solidarisch. 

Bezüglich der gegenseitigen Wahrnehmung unterstrich der Historiker Jürgen Danyel, daß die DDR im Ostblock als „disziplinierteste Baracke des Sozialismus“ gegolten habe und der Blick auf die DDR-Bevölkerung in der Tschechoslowakei sich erst mit den Vorgängen von 1989 zum Positiven gewandelt habe. Daß es nach dem Mauerbau 1961 keine nennenswerten Unruhen gegeben habe, sei, so der Historiker Udo Grashoff, vor allem damit zu erklären, daß die SED ihre „Lektion“ aus den Ereignissen von 1953 gelernt habe. Grashoff unterstrich, daß die Geschichte des Ostblocks mitnichten eine Geschichte der Proteste sei, prägend seien vielmehr lange Phasen von Unterdrückung, Stagnation und Angst gewesen. Zum Verständnis solle man neben „Opfern“ und „Tätern“ die „Indifferenten“ stärker in den Blick nehmen.

Sich nicht an denen orientieren, die „nur Unbehagen“ äußerten

Gänzlich verzichtet wurde auf eine Bezugnahme zu den gegen die Corona-Maßnahmen gerichteten Protesten, die bekanntlich beachtlichen Zulauf verzeichnen konnten. Zwar handelte es sich hierbei nicht um „Volksaufstände im sowjetischen und russischen Einflußbereich“, aber hätten vergleichende Betrachtungen nicht nahegelegen? Gewollt war dies offenbar nicht. Einziger Anklang, der in diese Richtung gedeutet werden könnte, war Danyels Bemerkung, die Straße werde „von Leuten zurückgeholt, die man dort gar nicht haben will“.

Rainer Eckert, ehemaliger Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, betonte, daß der Aufstand des 17. Juni 1953, entgegen einer ursprünglich in der Bundesrepublik verbreiteten Ansicht, politisch und bei weitem nicht nur materiell motiviert gewesen sei. Für den moralisch-intellektuellen Tiefpunkt des diesjährigen Bautzen-Forums sorgte der als Moderator fungierende MDR-Redakteur Stefan Nölke. Bezüglich der Frage der Akteure der 1989er Revolution, erklärte er, daß heutige AfD-Wähler damals „hinter der Gardine“ gestanden hätten. Sollte es sich tatsächlich um Unkenntnis handeln, so wäre dies schon aufgrund seines beruflichen Hintergrundes nicht zu entschuldigen. Die Frage, die man hätte diskutieren können, wäre, warum eine nicht unerhebliche Anzahl von damaligen Akteuren bis hin zu ehemaligen politischen Häftlingen sich heute vehement für die AfD ausspricht. Wenigstens bekam Nölke keinen Beifall, im Gegensatz zum Zeit-Journalisten Christoph Dieckmann. Auf einem der Podien, die die Thematik „Volksaufstände“ bereits weit hinter sich gelassen hatten, erklärte er bezüglich der massiven Zuwanderung nach Deutschland, die er zumindest als Problem erkannt hat, man könne keine Antworten anbieten, müsse aber „an Lösungen arbeiten“ und sich nicht an denen orientieren, die „nur Unbehagen“ äußerten. Stellungnahmen von ähnlicher argumentativer Schlagkraft waren während der beiden Veranstaltungstage öfter zu vernehmen.

Über „Sowjetische und putinistische Feindbilder gegen Aufstände und Dissidenzen in der eigenen Machtsphäre“ referierte der Publizist Gerd Koenen. Für eine Reihe von für Propagandazwecke genutzten Begrifflichkeiten wie Faschismus, Nazismus (nicht jedoch Nationalsozialismus) oder ein vages Zionismus-Konstrukt, das vor allem auf die Vorstellung eines US-beherrschten Weltkapitalismus zielt, ließen sich Linien von Stalin bis ins gegenwärtige Rußland finden. Koenens zunächst instruktive Ausführungen glitten jedoch ebenfalls ab in ein großes Plädoyer für die Ukraine-Hilfe, im Interesse „unserer Sicherheit“. Putin gehe lediglich „im Zwergenformat in die Geschichte“ ein. Sein „Regime“ werde instabil, Gras breche „durch den Asphalt“. Eine Stimme aus dem Publikum beschied, die Dinge vielleicht realistischer einschätzend: „Das wird aber keine Wiese!“