© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/23 / 22. September 2023

Ein Fanal gegen das Mitläufertum
Folker Reicherts monumentale Biographie des unbequemen Mittelalterforschers und Selbstdenkers Carl Erdmann (1898–1945)
Oliver Busch

Im Rückblick auf die Geschichte der Mittelalterforschung während der NS-Zeit stellte der Kieler Mediävist Karl Jordan sich und seinen Kollegen noch 1980 einen kollektiv gültigen „Persilschein“ aus. Es bestünde kein Grund zur Selbstkritik und Schuldbekenntnis, denn die deutsche Mediävistik habe sich nach 1933  „weitgehend“ dem Zugriff der neuen Machthaber entzogen. In erster Linie deswegen, weil die ideologischen Wortführer der „Bewegung“ dem von Christentum und Kirche geformten Mittelalter ablehnend gegenüberstanden. 

Vor dem Hintergrund seiner eigenen, vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler finanziell geförderten Arbeiten über die „Erschließung deutschen Lebensraums im Osten“ zur Zeit Heinrichs des Löwen, gleicht Jordans These einer durchsichtigen Schutzbehauptung. Martina Hartmann, die amtierende Präsidentin der Monumenta Germaniae Historica (MGH), nennt sie in ihrer kürzlich vorgelegten Studie über Jordans Habilitanden Ottokar Menzel und die Philosophiehistorikerin Hildegund Menzel-Rogner denn auch knackig „eine schamlose Lüge“.

Dieses harte Verdikt verkennt jedoch, daß hier nicht primär persönliches moralisches Versagen zu beurteilen ist. Zumal Jordans Einlassung zum rhetorischen Standardrepertoire des „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe) zählte, das die westdeutsche „Vergangenheitsbewältigung“ prägte. Eine wesentlich größere Rolle für die Verteidigungsstrategie, auf die sich Jordan und die Masse nicht nur der Historiker seiner Generation festlegten, um sich nicht an ihren mehr oder minder intensiven Dienst im Überbau der NS-Diktatur erinnern zu müssen, spielt das seit Wilhelm von Humboldts Universitätsreform etablierte, solchen „Gedächtnisschwund“ begünstigende Selbstbild des in „Einsamkeit und Freiheit“ forschenden Wissenschaftlers. Dessen „Autonomie“ gegenüber allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einflüssen ihm der Staat garantieren soll. Diese von Generationen gepflegte Illusion über die Möglichkeit, vom „garstig Lied“ der Politik nicht gestörte „reine, unpolitische Wissenschaft“ treiben zu dürfen, hat es dem Typus Karl Jordan erleichtert, zunächst sein Mitläufertum und nach dem „Untergang“ seinen Anteil an der geistigen Stützung des NS-Regimes zu bagatellisieren oder gleich ganz zu verdrängen.   

Einer der seltenen Kollegen Jordans, der diesen bequemen Weg nicht ging, war der Berliner Mediävist Carl Erdmann (1898–1945). Dieser war sich nach einem langen Lernprozeß zumindest über die enormen Schwierigkeiten im klaren, ein „Weltanschauungsfach“ und eine öffentliche Sinnstiftungsinstanz wie Geschichte gegen politische Vereinnahmung zu verteidigen und seine wissenschaftliche Eigenständigkeit zu wahren, um Rankes, vom Altmeister freilich auch nie erreichten Ideal nahezukommen: Schildern, wie es „eigentlich gewesen ist“.

Bis heute bestehen politische Bindungen des Faches fort

Über Erdmann entstand schon zu Lebzeiten die Fama vom einzigen weißen Raben in seiner Zunft, das Bild vom widerständigen, früh als Koryphäe anerkannten Privatdozenten, der seine Karriere preisgibt und sich in der MGH-Nische der Urkunden-Edition widmet, um sein Metier nicht zu prostituieren. Auch fast achtzig Jahre nach seinem Tod am 7. März 1945 ist noch allerlei Legendäres über ihn im Schwange. Bezeichnend ist, daß die Umstände seines Todes bis heute ungeklärt sind: Gestorben in oder bei Zagreb, in einem Gefangenenlager oder in einem Lazarett, an den Folgen einer Verwundung oder an Flecktyphus? Beerdigt in einem Einzel- oder Massengrab? Fragen, die auch die opulente Erdmann-Biographie nicht zu beantworten vermag, die der emeritierte Stuttgarter Mediävist Folker Reichert jetzt vorgelegt hat. Dennoch ist diese Arbeit, ergänzt durch eine Edition von 218 Briefen in einem separaten Band, natürlich ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der Mittelalter-Forschung, zur Universitäts-, Ideologie- und Mentalitätsgeschichte der NS-Zeit. Es ist zugleich eine Fallstudie über die seit Rankes Tagen im Theoriediskurs des Faches erörterte zentrale Frage, wie der von jeher prekäre Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität unter den Bedingungen eines, worauf Reichert leider nur am Rande hinweist, freilich nicht monolithischen, daher Räume für „geduldete Mehrstimmigkeit“ (Georg Bollenbeck) bietenden Ideologiestaates eingelöst wurde, der von Historikern Parteilichkeit verlangte und Geschichtsdeutung nur als „interessenbezogene Gegenwartsgestaltung“ (Frank-Lothar Kroll) zu akzeptieren schien. 

Es ist die größte Schwäche von Reicherts Darstellung, daß sie suggeriert, die Politisierung der Geschichtsschreibung sei ein auf die NS-Ära beschränktes Phänomen gewesen,was Beifall von der falschen Seite animiert, wenn der Verlag mit einer Empfehlung der Mediävistin Eva Schlotheuber wirbt: Die „fesselnde Biographie“ stelle einen Mediävisten vor, der sich unter den schweren Bedingungen des Nationalsozialismus nicht habe anpassen wollen. Reicherts Werk sei somit, wie ihr Kollege Nikolas Jasper ergänzt, „ein Fanal gegen Opportunismus und Mitläufertum, für intellektuelle Redlichkeit und Standhaftigkeit“. Solche Hymnen zeugen von immer noch fehlender Einsicht in nach 1945 fortbestehende politisch-weltanschauliche Bindungen des Faches, über die gerade Schlotheuber Auskunft geben könnte, da unter ihrer Ägide als Vorsitzende des deutschen Historikerverbandes 2018 eine nur im gallischen Dorf der Unangepaßten nicht unterzeichnete, maximal systemkonforme Resolution gegen „Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit“ und „Pro Migration“ verabschiedet wurde.  

Breiten Raum nimmt in Reicherts Biographie die detaillierte Rekonstruktion von Herkunft und Erziehung des Hochbegabten ein. Sie berichtet, welche Faktoren in Erdmanns Jugend auf das „kultivierte Außenseitertum“ des Erwachsenen vorausweisen. Der Historiker, in Dorpat geboren, entstammt der von Reichert mit viel Sinn fürs Lokalkolorit skizzierten schmalen Schicht des baltischen Bildungsbürgertums: Der Vater war Professor für Provinzialrecht an der Universität Dorpat, in der mütterlichen Linie sticht ein Bischof von Livland in der Ahnentafel heraus. Selbstdisziplin, Leistungsbereitschaft, Rationalität, familiärer Zusammenhalt, ein hoher Begriff von Bildung und Wissenschaft sowie, alles überwölbend, ein Patriotismus, der sich als Vorposten deutscher Kultur in den Ostseeprovinzen des Zarenreiches behaupten wollte, bestimmten in diesem Milieu Erdmanns Erziehung.    

An der nationalkonservativen Bildungsfixierung  änderte sich auch nichts, als der wegen seines Widerstands gegen die Russifizierung der Universität entlassene Vater 1898 starb und die Witwe 1901 nach Blankenburg am Harz zog. Am dortigen Humanistischen Gymnasium erhielt ihr jüngster Sohn eine gediegene altsprachliche Ausbildung. Im sich 1920 anschließenden Studium geriet Carl Erdmann unter den kurzen, aber nachhaltigen Einfluß des vom Gelehrtenethos erfüllten „preußischen Juden“ Paul Joachimsen, bevor er sich seit 1921 als Hauslehrer in Lissabon verdingen mußte, aber nebenher auch drei Jahre Zeit fand, in Archiven und Bibliotheken das Material für seine Doktorarbeit über den Kreuzzugsgedanken in Portugal zu sammeln. 

Dank dieser Expertise stellte ihn der „Wissenschaftsimperator“ Paul Fridolin Kehr für sein vom Preußischen Historischen Institut in Rom aus gesteuertes Großunternehmen Regesta pontificum Romanorum ein. Für Kehr zog Erdmann nochmals zu „archivalischen Eroberungen“ nach Portugal, um Papsturkunden aufzuspüren. Im Verständnis von Wissenschaft harmonierte er aufs beste mit seinem Universitäten („Klippschulen“), Professoren („Gesindel“) und Studenten („Hohlköpfe“) gleichermaßen verachtenden Chef, einem lupenreinen Positivisten: Was über die Erschließung und Edition von Quellen hinausging, Geschichtsschreibung eben, hielt Kehr für entbehrliche historische Belletristik. 

Widerspruch gegen allzu weltanschauliche Vereinnahmung

Ohne eine ähnlich radikale Position zu beziehen und die „nationale Aufgabe“ des Historikers zu negieren, wies der 1932 in Berlin über „Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens“ – nachmals ein international rezipierter Klassiker der Mittelalterforschung – habilitierte Erdmann die „Belletristik“ nationalsozialistischer Geschichtsideologen in die Schranken. 1935 organisierte er den in Buchform publizierten Protest renommierter Mediävisten gegen eine von Alfred Rosenberg, dem „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der Bewegung“, entfachte Kampagne, die darauf zielte, Karl den Großen als „Sachsenschlächter“ zu denunzieren und im nationalen Gedächtnis anders zu gewichten. Durch den vollen Erfolg – der am Mittelalter eher desinteressierte Adolf Hitler sprach nach Lektüre des Aufsatzbandes ein „Machtwort“ und zwang Rosenberg zum Rückzug – seiner Verteidigung des Karolinger-Kaisers ermutigt, legte Erdmann sich 1937 mit Heinrich Himmler an. 

Während der Ferien im heimatlichen Blankenburg stieß der unbequeme Gelehrte, dem inzwischen die Lehrbefugnis entzogen worden war, auf einige Fakten, die nicht zum SS-Kult um den ersten „deutschen“ König Heinrich I. paßten, den Himmler, der sich für dessen Wiedergänger hielt, 1936, zum 1000. Todestag, im nahen Quedlinburg zu inszenieren begonnen hatte. Erdmann wies nach, daß die bei einer SS-Grabung vermeintlich „entdeckten“ Überreste des Königs, die 1937 in Quedlinburg während einer pompösen „Heinrichs-Feier“ beigesetzt wurden, tatsächlich aus einem Heiligengrab stammten. Da Himmler mächtiger als Rosenberg war, durfte Erdmann allerdings seine Erkenntnisse nur in einem Fachorgan mehr verheimlichen als veröffentlichen. Erst 1947 kam heraus, daß der Reichsführer-SS in Heinrichs Sarkophag außer einem Schädel, der definitiv nicht der des Königs war, ein paar Dachlatten anstelle des Skeletts hatte bestatten lassen. Ein Triumph der Wissenschaft über Weltanschauung, den Carl Erdmann nicht mehr erlebte. 

Folker Reichert: Fackel in der Finsternis. Der Historiker Carl Erdmann und das „Dritte Reich“. Band 1: Die Biographie, Band 2: Briefe 1933–1945. WBG Academic, Darmstadt 2022, gebunden, zusammen 928 Seiten, Abbildungen, 150 Euro