Gottesdienst, fünfmal Beten am Tag, Vorträge, Kulturprogramm, keine Schimpfwörter, keine Frauen und kein Alkohol. Sie meinen, es geht um den Islam? Nein, das habe ich alles so auf einer Reise mit einer katholisch-konservativen Gruppe in Prag erlebt. Damals mit vielleicht 13 Jahren. Etwa vier Jahre später, also mit 17 Jahren, wiederholte sich das alles so ähnlich, nur diesmal nicht mit Katholiken, sondern mit etwa 20 moslemischen Deutschtürken in Istanbul. Ein Freund aus der Schule hatte mich dazu eingeladen, mit seiner Glaubensgemeinschaft, mit der er einen großen Teil seiner Freizeit verbrachte, in die Millionenstadt am Bosporus zu reisen.
Aus Gesprächen in der Schule war mir deutlich geworden, daß einige ähnliche Ansichten zwischen uns existierten; auf der einen Seite die Prägung der türkischen, moslemischen Eltern, auf meiner Seite das katholische Elternhaus. Was auch immer man von religiösen Reiseprogrammen wie diesen halten mag, als Christ den Glaubensalltag mit gläubigen Moslems zu verbringen, machte mir unsere gegenseitige Wertschätzung erfahrbar. Es brauchte keinen die Grenzen verwaschenden Ökumenismus, um festzustellen: Wir, Christen und Moslems, können gemeinsame Grundlagen haben und gemeinsame Ziele definieren, wir können eine andere Art des Zusammenlebens schaffen als ein sich gegenseitiges Ignorieren, Ausnutzen oder Herabsetzen.
Doch nicht nur Christen sind angesprochen, sondern auch all jene, die am Erhalt und an der Weitergabe natürlicher, traditioneller, also bewährter Instanzen ein Interesse haben. Die dementsprechend positiven Kräfte sollen der Einfachheit halber als konservativ bezeichnet werden. Nicht angesprochen sind diejenigen, die im tatsächlichen Sinne antidemokratisch oder schlicht destruktiv agieren. Der Idee folgend gibt es ein bislang unangetastetes, konservatives Potential in Deutschland: Moslems. Das einende, konservative Potential liegt dabei vor allem im Wertschätzen der Familie, der natürlichen Geschlechterordnung und der Ehe. Daraus ergibt sich ein Interesse an einer schützenden staatlichen und öffentlichen Ordnung. Es böte sich zudem an, für einen öffentlichen Schutz und das Anerkennen der religiösen Würde zu streiten. Wenn sich die Qualität einer westlichen Demokratie an der Akzeptanz für Koranverbrennungen oder dem Abdrehen perverser Jesus-Filme mißt, gleicht das bereits einer Selbstaufgabe. Anstatt die Meinungsfreiheit einzuschränken, würde eine positive kulturelle Selbstrezeption, wo sie angebracht ist, ausreichen, um ein positives Verhältnis zum Staat und zur Demokratie aufzubauen. Wer das nicht möchte, der disqualifiziert sich selbst.
Fest steht in den meisten Fällen: Weder der arbeitende, eingewanderte Türke noch der arbeitende, eingesessene Deutsche möchten sich oder seine Kinder der Indoktrinierung mittels psychoaktiver Umerziehungsideologien ausgesetzt sehen oder seine Tradition zugunsten eines zeitgeistig konstruierten Ethos einschränken oder aufgeben. Keiner von beiden will auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause von entwürdigender Werbung beschämt oder von selbstgerechten Unruhestiftern belästigt werden. Die Pädagogik im Kindergarten oder der Lehrplan in der Schule gehen auf politische Entscheidungen zurück, auf die mit gemeinsamer Absicht eingewirkt werden kann.
Getrost darf angenommen werden, daß die Menge moslemischer Einwanderer nicht nach Deutschland gekommen ist, um ein Leben am untersten sozialen Rand zu verbringen. Läge der Fokus der Integrationspolitik nicht auf der Einbettung dieser Migranten in neuwestliche Gesellschaftsexperimente, würden diese auch den Willen spüren, sich eine Karriere hierzulande aufzubauen. Mit gleichem Recht darf davon ausgegangen werden, daß die meisten Deutschen nicht darauf warten, bis der perfekte Nationalstaat preußischer Manier wiederhergestellt wird, und auch nicht die Absicht hegen, auszuwandern oder sich in weltanschauliche Ghettos zurückzuziehen. Mit Bismarck sei gesagt: „Wir müssen mit Realitäten wirtschaften und nicht mit Fiktionen.“
Die größten Feinde des Patriotismus sind nicht in den Reihen der moslemischen Einwanderer zu finden. Insofern kann auch ein gemeinsamer Gegner im linken Mainstream ausgemacht werden und überall dort, wo die Liberalisierungswut gesellschaftlicher und politischer Lobbyisten sowie Amtsträger keine Grenzen mehr kennt. Um den Tatsachen ins Auge zu blicken: Zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Moslems leben nach Angaben des Bundesinnenministeriums derzeit in Deutschland. Gemessen an der Gesamtbevölkerung von 83,1 Millionen entspricht das zwischen 6,4 und 6,7 Prozent. Etwa die Hälfte davon ist türkischer Herkunft. Die Zahl moslemischer Gläubiger in Deutschland ist steigend, die Fertilitätsrate im Schnitt höher. Zwar sind das nur ungefähre Zahlen, aber es läßt sich feststellen, daß der Realität, daß Moslems inzwischen einen festen Bestandteil der Bevölkerung Deutschlands ausmachen und daß sie auf lange Sicht immer selbstbewußter ihre eigenen Interessen auch politisch vertreten und einfordern werden, immer noch ungenügend Rechnung getragen wird.
Der Umgang mit dieser wachsenden Bevölkerungsgruppe ist oftmals behelfsmäßig, idealisierend oder ablehnend. Grob vereinfacht beschränkt sich der öffentliche Diskurs mit dem in Deutschland seßhaft gewordenen Islam auf eine Idealisierung, die einen friedlichen, toleranten, demokratischen Islam zeichnet, der eine bloße Bereicherung der kulturellen Vielfalt darstellt; auf eine Bagatellisierung, nach der der Islam sich wirtschaftlich bedingt im besten Fall selber liberalisiert und aufklärt; und auf eine Dämonisierung, die den Islam als Grundübel sozialer Verwerfungen und Wurzel der Kriminalität ausmachen will. Mit Loriot ließe sich sagen: Das Bild hängt schief. Ein vollkommen friedliebender und kulturfördernder Islam läßt sich schon aus der Geschichte des Islams und angesichts der Terroranschläge allein im neuen Jahrtausend, die offensichtlich etwas mit dem Islam zu tun haben, nicht konstruieren.
Die europäische Geschichte, mit der Aufklärung als entscheidendem Momentum interpretiert, als Prototyp der Geschichte überhaupt zu verstehen, so daß andere Kulturen denselben Weg früher oder später nachfolgen müßten, ist nicht nur historisch zu bezweifeln, sondern verkennt zudem die erfolgreiche Etablierung des Islam als kulturreligiöses Bindemittel von Völkern und Nationen; immerhin repräsentiert der Islam mit circa zwei Milliarden Anhängern die zweitgrößte Religion der Welt. Auch als Dämon der Geschichte kann der Islam schwerlich herhalten, immerhin hat es nicht den Islam gebraucht und braucht es auch heute nicht, um Krieg und Terror auszulösen; abgesehen davon, daß Errungenschaften islamischen Schaffens damit ausgeblendet werden. All diesen Projektionen ist aber gemein, daß sie zu keinem praktischen alltäglichen oder politischen Umgang mit Moslems in Deutschland taugen. Im Gegenteil wirken sie eher einschläfernd, selbstüberschätzend oder angstgetrieben.
Statt sich in unwahrscheinlichen Deislamisierungs- und Remigrationsvorhaben oder überholten Integrationsdebatten zu verhaken, stünde es deutschen Konservativen besser zu Gesicht, mit den Realitäten zu rechnen und daraus Kapital zu schlagen. Eine konstruktive Zusammenarbeit mit Moslems zu forcieren heißt nicht, sich anzugleichen oder sich selbst aufzugeben. Das Weitergeben deutscher und christlicher Tradition kann nicht auf das Verhalten moslemischer Einwanderer abgeschoben werden, sondern ist zunächst Aufgabe der Familien und findet dann seinen Ausdruck in konservativer Politik. Die Einwanderungsdebatte ist in gewissem Maße von der Debatte um den Islam in Deutschland zu trennen. Auch hier kann sogar nach Einigung und Kompromissen gesucht werden, niemand hindert den Konservativen daran, seine Ziele selbstbewußt, auch gegenüber moslemischen Mitbürgern, zu formulieren. Das Verharren in Depression angesichts der politischen Gegebenheiten manifestiert dagegen langfristig die konservative Ohnmacht.
Wieso also nicht den Versuch wagen, gemeinsame Ziele zu formulieren und durchzusetzen? Lassen wir Theologen Theologen sein, und Prediger sollen predigen. Abseits intellektuell-strategischer Maximalideale wird die Zukunft in Deutschland auch davon abhängen, wie das Zusammenleben zwischen den Kulturen und Religionen im Alltag gestaltet wird. Das ist kein Feld, das exklusiv-ideologischen Sozialingenieuren von welcher Seite auch immer zu überlassen ist.
Hermann Rössler, Jahrgang 1995, lebt im Raum Köln, hat Geschichte in Wien und Bonn studiert und von 2019 bis 2021 das Volontariat bei der JUNGEN FREIHEIT absolviert.