© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/23 / 22. September 2023

Propaganda in Unterhaltungsfilmen
Überschaubare Verhältnisse, überschaubares Personal: Der Strukturwandel in Dorf und Land im Spiegel westeuropäischer Fernsehserien
Oliver Busch

Im Gegensatz zur DDR unter dem Regime kommunistischer Zwangskollektivierung  vollzog sich die Agrarrevolution der Bonner Republik fast geräuschlos. Das Drehbuch dazu lieferten die Leitlinien zur Gemeinsamen Agrarpolitik, wie sie 1958 von Frankreich, Italien, den Benelux-Ländern und der Bundesrepublik, den Gründerstaaten der heutigen EU, auf einer Konferenz im norditalienischen Stresa beschlossen wurden. Der damit ausgelöste tiefgreifende „Strukturwandel“ ließ im ländlichen Raum keinen Stein auf dem andern.

Allein in Deutschland ging bis zur Jahrtausendwende die Zahl der Agrarbetriebe von 4,7 Millionen (1950) auf 320.000 zurück. Augenblicklich sind es noch 256.000 Betriebe mit 900.000 Beschäftigten, marginale zwei Prozent der Erwerbstätigen. Die im 19. Jahrhundert entstandenen, von bäuerlichen Familienbetrieben geprägten dörflichen Strukturen haben sich nach Maßgabe einer Brüsseler Agrarpolitik, die die Transformation hin zur industriellen Landwirtschaft mit Unsummen förderte, also seit den 1960ern weitgehend aufgelöst. 

Diese ökonomisch bedingte „Abwendung vom Dorf“ spiegelte sich für den Kultur- und Medienhistoriker Gunter Mahlerwein (Universität des Saarlandes) perfekt in der westdeutschen Fernsehunterhaltung jener Zeit wider. Denn neben US-Western und -Tierfilmen sowie einigen schwedischen und englischen, eher periphere Räume abbildenden Serien wurde den TV-Konsumenten kein Angebot gemacht, das ländlich-dörfliche Lebensabläufe zum Inhalt hatte – weder in den „Kinderstunden“ noch in dem der Familienunterhaltung gewidmeten Vorabendprogramm.

Unter der Federführung Mahlerweins veranstaltete die Gesellschaft für Agrargeschichte zu diesem Thema ihre Sommertagung im Juni 2022. Betrachtungsgegenstand waren „Dorfserien“ als eigenständiges Phänomen. Denn im Unterschied zu Heimatfilmen beziehungsweise Heimatserien, bei denen es sich um „ein gut definiertes Genre handelt, zu dem zahlreiche Untersuchungen vorliegen“, sei dies bei Dorfserien viel weniger der Fall.

Politische Botschaften in national unterschiedlicher Dosierung

In seiner von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten vergleichenden Untersuchung über „Dorf und Land in westeuropäischen Kinder- und Familienfernsehserien der 1950er bis 1970er Jahre“ registriert Mahlerwein eine ähnlich rigorose  Ausblendung, wie sie ARD und ZDF praktizierten, nur noch bei den Fernsehanstalten Belgiens und Italiens, während in Dänemark das Land in Eigenproduktionen allein dann eine stiefmütterliche Rolle spielte, wenn deren Protagonisten, ausschließlich Großstadtkinder, dort ihre Ferien vertollten (Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 2/2022). 

Soweit aber wie „das Land“ in importierten Serien doch auf deutschen Bildschirmen präsent war, lebten deren Helden aber nicht einmal in Dörfern, sondern auf abgelegenen Inseln („Ferien auf Saltkrokan“), Höfen, Kleinsiedlungen (Bullerbü, Lönneberga), in undurchdringlichen Wäldern ferner Zeiten („Robin Hood“) und auf Farmen wie Shiloh Ranch („Bonanza“) und Broken Wheel Ranch („Fury“). Überschaubare Verhältnisse mit überschaubarem Personal. Gegenüber der Darstellung von Urbanität, die gerade durch die Konfrontation mit immer wieder Neuem und Fremdem definiert ist, habe die rurale, also bäuerliche, ländliche Szenerie somit glaubwürdige „Komplexitätsreduktion“ ermöglicht, so daß die Serien maßgeschneidert für ihre vermeintlich „reine“ Unterhaltungsfunktion hätten angefertigt werden können.

Hingegen vermittelten schwedische, englische, französische und spanische Serien über die allemal gesellschaftlich nützliche Unterhaltung hinaus offen politisch-propagandistische Botschaften. Allerdings in national sehr unterschiedlicher Dosierung. Einen moderaten Kurs steuerten die Programmgestalter in Stockholm. Sie sahen den selbstgestellten Informations- und Aufklärungsauftrag als erfüllt an, wenn die auf Astrid-Lindgrens Büchern basierenden Serien „Die Kinder von Bullerbü“ und „Ferien auf Saltkrokan“ im Unterschied zu den eingekauften, lange konkurrenzlosen US-Kinder- und Familienserien „ohne Gewalt“ auskamen. Und sich somit das auf Harmonie fixierte Sozialideal des schwedischen „Volksheims“ früh ins Bewußtsein der jungen Generation senkte. Daß dabei Schwedens Strukturwandel in der Provinz zugunsten verklärender Kindheits- und Ferienidyllen verdrängt wurde, war beabsichtigt und ließ zugleich Raum für eine modernekritische Rezeption.

Viel offensiver packten britische Familienserien tiefgreifende Veränderungen des Landlebens an. Schon gleich in „Weavers Green“, der „first rural soap opera“, die 1966 anlief. In deren Mittelpunkt steht die Geschichte eines seit 30 Jahren im Film-Dorf Weavers Green in Norfolk tätigen Tierarztes und seines Juniorpartners, der mit seiner verwöhnten jungen Frau aus London zugezogen ist. Um einen authentischen Spiegel des Landlebens zu bieten, mußten die Drehbuchautoren auch Konflikte schildern, die sich an der Begegnung zwischen Moderne und Tradition im Dorf entzündeten. Die Schwierigkeiten der durch Kurzhaarfrisur und Zigarettenkonsum  eindeutig als urban markierten jungen Landarztgattin, sich in ihre ländliche Existenz einzufügen, bilden daher einen der Hauptstränge der Serienerzählung.

Doch trotz aller lobenswerten, den Wandel dörflicher Sozialordnung dokumentierenden Realitätsnähe, moniert Mahlerwein, bestimmte letztlich der „Traum vom Landleben aus der Sicht der Stadt“ die Perspektive. Dem Gesetz des Genres gehorchend, wurde die Darstellung eines attraktiven Dorfes und einer schönen Landschaft offensichtlich für notwendig gehalten, um beim englischen TV-Publikum zu landen. Denn, so das nationale Selbstbild, jeder „Englishman“ gebe sich dem nostalgischen Glauben hin, im Grunde seines Herzens ein „Countryman“ zu sein. Folglich fanden die härtesten Probleme agrarischen Strukturwandels, wie etwa die expansive „Verstädterung“ des Landes, nur am Rande Eingang in die Handlung.

Serien-Fabrikanten machen sich zum Sprachrohr ihrer Staaten

In dieser Hinsicht wagten sich französische Produzenten viel weiter vor, da sie unter staatlicher Anleitung und Förderung nicht weniger als die offizielle Sichtweise des agrarischen Strukturwandels verbreiten sollten. Anhand der Serie „Sylvie des trois ormes“, die die schwierige Beziehung eines verwitweten Landwirts zu einer jungen Frau in der Nachbarstadt erzählt, sei der unmittelbare Einfluß des Pariser Agrarministeriums bereits exemplarisch nachgewiesen worden. Dieses übernahm nicht nur ein Drittel der Kosten der privaten Produktionsgesellschaft. Es griff auch direkt ins Drehbuch ein, um für die Vorteile der „monde agricole“ im Umbruch zu werben, deren „moderne Lösungen ein besseres Leben als früher ermöglichen“ würden. Der Landwirt von heute, so konnte es ein ausweislich hoher Einschaltquoten „begeistertes Provinzpublikum“ auffassen, kleide sich wie du und ich, fahre Auto, schaue Fernsehen und forme sein Weltbild nach diesem Medium. Habe er sich derart mit Veränderungen innerlich ausgesöhnt, gebe es, so kalkulierte man im Agrarministerium, keine triftigen Gründe mehr zur Landflucht.

In der Bereitschaft, sich zum Sprachrohr des Staates zu machen, standen gerade die spanischen Serien-Fabrikanten während der Franco-Ära ihren französischen Kollegen nicht nach. Aber ihre Botschaft lautete nicht primär, sich mit dem bedrohlich Neuen zu arrangieren, sondern das Alte, das sich auf dem Land bewährt hat, als Maßstab für die gesamte Gesellschaft zu erhalten. In der spanischen Serie „Cronica de un pueblo“, in 114 Episoden zwischen 1971 und 1974 ausgestrahlt, verkörpern die Dorfautoritäten Bürgermeister, Lehrer und Priester die unantastbaren Institutionen Staat, Erziehung und Kirche. Sie stehen sinnbildlich für ein geeintes, zentralistisch regiertes Spanien. So wie in dem fiktiven kastilischen Dorf könnten alle sozialen Konflikte einvernehmlich durch Kooperation mit den Autoritäten gelöst werden.

Waren in britischen und stärker noch in französischen Serien ökonomische, kulturelle und psychosoziale Verwerfungen in „abgehängten Regionen“ zumindest partiell Thema, traten sie in den „Cronicas“ zugunsten der massiven politischen Propaganda für die „alternativlose“ spätfranquistische Konsensgesellschaft eher in den Hintergrund. Eine spanische Besonderheit war diese forcierte Selbstgleichschaltung und Indienstnahme öffentlich-rechtlicher Medien im Segment Kinder- und Familienserie jedoch nicht. Diese eigenwillig-schrille Auslegung von „Unabhängigkeit“ ist bis heute ihr gemeineuropäisches, hierzulande vom Bundesverfassungsgericht zertifiziertes Qualitätssiegel geblieben.