Der weltweit erste „echte“ Anruf unter Verwendung eines handelsüblichen Mobiltelefons verlief genauso banal wie viele heutige Gespräche via Handy: „Bringen Sie uns bitte Wasser“, sagte der Chefdesigner des US-amerikanischen Motorola-Konzerns Rudy Krolopp zum Manager eines Hotelrestaurants, der sich sehr darüber wunderte, daß sein Gast auf der Außenterrasse telefonieren konnte. Krolopp nutzte dabei das Modell DynaTAC 8000X, dessen Entwicklung zehn Jahre früher unter der Leitung des Motorola-Ingenieurs Martin Cooper begonnen hatte.
Der heute 94jährige Cooper war bereits am 3. April 1973 in der Lage gewesen, mobil zu telefonieren, womit er seine Rivalen beim Konkurrenzunternehmen Bell Laboratories düpierte. Allerdings benutzte Cooper dafür noch einen primitiven Prototyp. Außerdem gab es damals kein reguläres Mobilfunknetz. Dessen Aufbau zog sich endlos hin, weil die Behörden die nötigen Lizenzen nur im Schneckentempo vergaben. Deshalb brachte Motorola das DynaTAC 8000X erst am 21. September 1983 – im „Internationalen Jahr der Kommunikation“ – auf den Markt.
Die Idee vom mobilen Telefonieren war zu diesem Zeitpunkt schon über siebzig Jahre alt. Am 17. August 1913 hatte der jüdisch-deutsche Schriftsteller Gustav Hochstetter die Kurzgeschichte „Schweigend wandern“ im Prager Tageblatt veröffentlicht. Der Text schildert, wie ein Ruhe suchender Firmenchef in den Bergen durch „eine ganz neue Erfindung: das tragbare, drahtlose Telefon im Miniaturformat“, genervt wird. Zehn Jahre später richtete die Dr. Erich F. Huth Gesellschaft für Funkentelegraphie versuchsweise einen Telefondienst in Zügen der Deutschen Reichsbahn ein. Brauchbare autonome mobile Geräte zum Telefonieren für unterwegs standen indes erst 1946 zur Verfügung, wobei es sich um ziemlich schwere Autotelefone handelte.
Das DynaTAC (für Dynamic Adaptive Total Area Coverage) 8000X von 1983 war aber auch nicht gerade ein Leichtgewicht: Es wog 794 Gramm bei 33 Zentimetern Länge. Der Preis betrug 3.995 US-Dollar – das entspräche heute fast 11.000 Dollar. Dafür konnte der stolze Besitzer rund eine Stunde telefonieren und 30 Nummern speichern. Trotz des nicht gerade günstigen Preis-Leistungs-Verhältnisses zählte man ein Jahr später bereits 300.000 Kunden. In der Zeit danach kamen auch diverse weitere Handy-Modelle auf den Markt, wobei die Gesamtzahl der Geräte 2003 die Eine-Milliarde-Grenze überschritt. Heute nutzen drei von vier Erwachsenen auf der Welt ein Mobiltelefon, wobei die dafür erforderlichen Netze 80 Prozent der Oberfläche unseres Planeten abdecken.
Mit seinem Auftauchen sorgte das Handy nicht nur für extreme Wandlungen auf dem Gebiet der Kommunikation. Vielmehr löste es auch eine Kulturrevolution aus, welche manche Wissenschaftler sogar als die größte kulturelle Umwälzung in der Geschichte der Menschheit überhaupt bezeichnen. Und tatsächlich veränderte das Mobiltelefon praktisch alles – beginnend bei unserem Sozialleben und Konsumverhalten über die Wirtschaft bis hin zu so unterschiedlichen Bereichen wie Medizin, Kunst und Kriminalität. Oder anders ausgedrückt: Für viele Leute mutierte es zum Mittelpunkt ihrer Existenz, weil sich das gesamte vernetzte Leben danach ausrichtet. Denn das Gerät bündelt die drei Grundelemente jeder modernen Gesellschaft, Kommunikation, Mobilität und Individualität, verformt unseren Alltag dabei aber oftmals auf extreme Weise. Es hat die Menschheit in ein „Daumenzeitalter“ katapultiert und zahlreiche neue Sitten beziehungsweise kulturelle Rituale generiert. So veranstalten die Finnen seit 2000 Weltmeisterschaften im Handy-Weitwurf – der Rekord liegt aktuell bei 110,42 Metern. Gleichzeitig wird versucht, auch beim mobilen Telefonieren Tradition und Moderne zu vereinbaren. Ultraorthodoxe Juden können koschere Geräte nutzen, die weder internetfähig sind noch zum Verschicken von SMS taugen und bei einer Benutzung am Sabbat astronomisch hohe Kosten verursachen.
Ebenso ist das Handy natürlich ein Statussymbol, was vor allem für unterentwickelte Länder gilt. Dort legen manche Leute zwanzig Kilometer zu Fuß zurück, um das wertvolle Stück aufzuladen, weil es an ihrem Wohnort zwar ein Mobilfunknetz, aber keinen Strom gibt.
Derweil zerbrechen Soziologen und Kulturwissenschaftler sich den Kopf darüber, ob die Erfindung des Handys eher ein Fluch oder ein Segen für die Menschheit sei. Auf der Haben-Seite stehen dabei vor allem der unzweifelhafte praktische Nutzen in vielen Situationen und die Möglichkeit, soziale Bande auch unter schwierigen Bedingungen und in dezentralen individualisierten Netzwerken zu knüpfen oder aufrechtzuerhalten. Manche sprechen gar euphorisch von einer „Ermächtigungstechnologie“, die es erlaube, weitgehend unabhängig von Ort und Zeit zu agieren. Ebenso ist davon die Rede, daß ein Smartphone die „Kulturmaschine“ schlechthin darstelle, denn keine andere Erfindung biete die Möglichkeit, so leicht an Informationen zu gelangen. Des weiteren hätten die Milliarden von Fotohandys unser Bild von der Welt erweitert.
Gleichzeitig existieren aber auch unzählige Nachteile, Risiken und Nebenwirkungen. Einen Teil davon hat hierzulande vor allem der Neurowissenschaftler und Psychologe Manfred Spitzer thematisiert: „Wenn sich das Erleben und Verhalten eines Großteils der Menschen durch ein einziges kleines neues Produkt in diesem noch nie dagewesenen Ausmaß ändert, dann kann dies eines nicht haben: keine Konsequenzen!“, schreibt er in seinem bereits 2018 veröffentlichten Buch „Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft“ (JF 52/18–1/19).
Der Einfluß auf unsere Lebensgestaltung beginnt bei eher harmlosen Dingen wie der Fetischisierung des Gebrauchsgegenstandes oder der manischen Nutzung als Spielzeug und endet mit ernsthaften Gefahren. Mobiltelefone rauben den Menschen die Ruhe – immer und überall. Sie zerstören nicht selten jegliche Intimsphäre und erlauben Fremden einen nachgerade tyrannischen Zugriff auf unser Privatleben. Die Trennung von Arbeit und Freizeit gerät zur vollkommenen Illusion, sobald Handys im Spiel sind.
Mobiltelefone bestärken labile Menschen in ihrem Suchtverhalten und sorgen für vielerlei Formen von Beziehungsstreß. Das Durchforsten des Handys des Partners und die dabei gemachten Funde gehören mittlerweile zu den Hauptursachen für Trennungen oder Ehescheidungen. Gleichzeitig machen die Apps auf den Smartphones, welche sich vermehren wie Unkraut, inkompetent: Wozu braucht der Handy-Nutzer beispielsweise noch seinen Orientierungssinn, wenn die Technik ihm den Weg weist?
Die Geräte mit Fotofunktion wiederum erleichtern das Treiben von Voyeuren oder Industriespionen, und Sadisten ergötzen sich an Gewaltvideos der übelsten Sorte, die heute jedes Kind anfertigen und verbreiten kann.
Dazu kommen die Gefahren durch Handys im Straßen- und Luftverkehr sowie für die menschliche Gesundheit. Zwar wird immer wieder dementiert, daß die Mobiltelefonstrahlung Krebs erzeugt oder andere schwere Störungen der Körperfunktionen verursacht. Aber dazu hat die Medizin das letzte Wort noch nicht gesprochen, und die Indizien für schädliche Auswirkungen verdichten sich aktuell immer mehr.
Des weiteren sind Handys wahre „Rohstofffresser“, wobei sie auch noch viele teure beziehungsweise seltene Elemente wie Tantal, Gallium, Indium, Palladium, Platin und Gold schlucken. Etliche der bis zu 30 Metalle und Mineralien, die in einem Mobiltelefon stecken, werden in Minen abgebaut, welche de facto von Warlords kontrolliert werden. Damit hält die Technik Bürgerkriege wie den im Osten des Kongo am Laufen.
Und dann stellen Handys natürlich auch ein perfektes Überwachungsinstrument dar, mit dessen Hilfe Regierungen und IT-Konzerne „gläserne Bürger“ schaffen können. Einen massiven Schub in diese Richtung gab es während der Corona-Pandemie – und weitere werden sicher bald folgen, so zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Ausbau der Elektromobilität oder der Einführung digitaler Währungen.
Vor dem Hintergrund all dieser Aspekte der Handy-Nutzung sind drei grundsätzliche Zukunftsszenarien denkbar. Zum ersten könnte es zur physischen Verschmelzung der Nutzer mit ihrem Mobiltelefon kommen. So träumte schon der DynaTAC-8000X-Entwickler Cooper: „Das Telefon sollte irgendwann ein Teil des Menschen werden – vielleicht unter der Haut hinterm Ohr.“ Zum zweiten besteht die Möglichkeit, daß statt des Handybesitzes die Handyabstinenz zum neuen Statussymbol wird, woraufhin Nachfrage und Nutzung total einbrechen. Und zum dritten wäre auch eine Welle der subversiven Abwendung von den Geräten denkbar, wenn diese gar zu deutlich der Unterdrückung dienen.