Es war nur eine kleine Einladungskarte, die jedoch große Aufmerksamkeit erzeugte: Pünktlich zu Beginn des G20-Gipfels in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi hatte Indiens Regierungschef Narendra Modi die Delegierten des Treffens zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen. Daß bei diesem Treffen, das vom 9. bis 10. September im Beisein von fünfzehn Staats- und Regierungschefs aus aller Welt stattfand, die Afrikanische Union als neuestes Mitglied der „Gruppe der Zwanzig“ aufgenommen wurde, wertete die internationale Presse im Anschluß als Meilenstein der Geschichte der G20.
Überschattet wurde dieser Erfolg insbesondere in der indischen Presse von ebenjener Einladungskarte zum Abendessen an die G20-Teilnehmer, in welcher sich Modi nicht als „Präsident Indiens“, sondern als „Präsident Bharats“ vorstellte. Die indische Gesellschaft debattiert seitdem heftig in Zeitungen und sozialen Medien, was Narendra Modi mit dieser Namensgebung tatsächlich bezweckt.
Die indische Opposition sieht sich über den Tisch gezogen
Der Name „Indien“, dies sei vorangestellt, stammt aus dem Sanskrit, der altindischen Sprache, welche heute nur noch von wenigen tausend Menschen gesprochen wird. Über das Altgriechische fand „Sindhu“, wie „Indien“ auf Sanskrit heißt, seine Abwandlung „India“ ins Lateinische und schließlich in die heutigen Gebrauchssprachen der westlichen Welt. Seine Bedeutung ist schlicht mit „Grenzfluß“ zu übersetzen und bezieht sich auf den gleichnamigen Indus, der von Tibet aus durch den indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir fließt und später, nach seiner langen Reise quer durch Pakistan, nahe der pakistanischen Hafenstadt Karatschi in das Arabische Meer mündet. Der Indus markierte als natürliches Hindernis die östlichste Grenze jenes Großreichs, welches der makedonische König Alexander der Große im vierten vorchristlichen Jahrhundert eroberte. Von diesem Fluß leitet sich nicht nur der Name des südasiatischen Subkontinents ab, sondern ebenso jener des südostasiatischen Staates Indonesien, zu deutsch „Grenzflußinseln“.
Doch trotzdem der Indus mit seinen gut 3.200 Kilometern zu einem der längsten Flüsse der Welt zählt, fließen nur weniger als zehn Prozent davon direkt durch Indien – und dies noch verstärkend durch einen Bundesstaat, welcher von Indiens Nachbarstaat Pakistan beansprucht wird. Beide heutigen Länder waren seit 1858 unter britischer Kolonialherrschaft zu einer Union zusammengefaßt, die sich im August 1947 gewaltsam aufspaltete, wobei über 20 Millionen Menschen aus ihren alten Heimatgebieten beidseits der neuen Grenze vertrieben wurden. Indischen Nationalisten ist der Name Indien seit je ein Dorn im Auge. Sie verweisen auf das koloniale Erbe dieses Namens, welches mit den heutigen geographischen Gegebenheiten längst nicht mehr in Einklang gebracht werden kann.
„Es ist ein stolzer Augenblick für jeden Inder, daß auf den Einladungskarten zum Abendessen ‘Präsident von Bharat’ geschrieben stand“, fand Pushkar Singh Dhami, Ministerpräsident („Chief Minister“) des nordindischen Bundesstaats Uttarakhand, schon wenige Tage vor dem G20-Gipfels lobende Worte für seinen Parteigenossen Modi. Beide Politiker gehören der „Bharatiya Janata Party“ (BJP) an, einer hindu-nationalistischen Partei, der seit ihrer Gründung im Dezember 1980 ein spektakulärer Aufstieg in Indiens diversifizierter, von unzähligen Ethnien sowie religiösen und ideologischen Strömungen geprägter Parteienlandschaft gelang. In der „Lok Sabha“, der „Volksversammlung“ Indiens, die als erste Kammer des Zweikammersystems vergleichbar mit dem Deutschen Bundestag agiert, hält die BJP derzeit eine stabile Mehrheit von 303 der insgesamt 545 Parlamentssitze. Von den 28 indischen Bundesstaaten werden ganze zehn allein von der BJP, vier weitere von einer Koalition unter Vorherrschaft der BJP regiert. Auch zu den nächsten Parlamentswahlen, die für den Mai 2024 anberaumt sind, zeigen sich die Hindu-Nationalisten zuversichtlich, erneut die absolute Mehrheit zu erringen.
Die indische Opposition sieht dies freilich anders. Unter Federführung der Kongreßpartei (INC), die 1947 unter ihrem ersten Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru Indien in die Unabhängigkeit führte, hatten sich im Juli dieses Jahres gleich 28 Oppositionsbewegungen zu einem breiten Bündnis zusammengeschlossen, um die BJP bei den kommenden Parlamentswahlen zu schlagen. Der Name dieses Bündnisses ist dabei nicht zufällig gewählt: Er lautet „INDIA“, ein Akronym der englischen Begriffe „Indian National Developmental, Inclusive Alliance“; zu deutsch „Indische nationale entwicklungspolitische und integrative Allianz“.
„Der Name dieser Allianz ist eine phantastische Idee“, erklärte der einflußreiche Lok Sabha-Abgeordnete und ehemalige Vorsitzende der Kongreßpartei, Rahul Gandhi, vor wenigen Tagen im Interview mit dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera. „Er stellt exakt dar, wer wir sind. Wir sehen uns selbst als Stimme Indiens.“ Der Plan des Bündnisses ist dabei so schlicht wie elegant und basiert auf einer einvernehmlichen Aufteilung sämtlicher indischen Wahlkreise unter den Einzelkandidaten der 28 teilnehmenden Parteien. So bräuchten diese nicht mehr gegeneinander, sondern einzig noch gegen Modis BJP-Kandidaten konkurrieren. „India“ repräsentiert sechzig Prozent der Bevölkerung, und wenn wir uns effizient verbünden, ist es für die BJP unmöglich zu gewinnen“, zeigt Gandhi sich siegesgewiß. Doch dafür benötige es zuvorderst ein Bewußtsein unter den Indern, Inder zu sein.
Als taktisches Manöver im beginnenden Wahlkampf bewertet die Opposition von daher Modis Vorstoß auf dem G20-Gipfel, Indien künftig als „Bharat“ zu bezeichnen. Daß Länder sich nach ihrer Unabhängigkeit aus der Kolonialherrschaft neue Namen geben, ist tatsächlich so ungewöhnlich nicht. So benannte der charismatische panafrikanische Politiker Thomas Sankara nach seiner Wahl zum Präsidenten die ehemalige französische Kolonie Obervolta im Jahr 1984 in Burkina Faso um, das „Land der aufrichtigen Menschen“. Bereits dreizehn Jahre zuvor löste sich Ostpakistan vom pakistanischen Mutterstaat, um fortan den Namen Bangladesch („Land der Bengalen“) zu tragen. Auch die indische Verfassung sieht in Artikel 1 beide Namensgebungen – Indien und Bharat – als offizielle Namen des Landes vor. Der Name „Bharat“ entstammt wie sein Konterpart „Sindhu“ dem Sanskrit und bezieht sich auf antike hinduistische und jainistische Schriften, welche von „Bharata“ als einem der ersten Könige auf dem indischen Subkontinent berichten. Ob dieser tatsächlich gelebt hat, ist streitbar. In der indischen Nationalfolklore findet Bharata jedoch großen Anklang. Die traditionelle Wertschätzung dieses mythischen Königs wissen vor allem die Hindu-Nationalisten der BJP für die Ausweitung ihres politischen Einflusses zu nutzen. Immerhin sind mehr als achtzig Prozent der 1,4 Milliarden Inder Anhänger hinduistischer und jainistischer Strömungen.
Als Nebelkerze, die darauf abzielt, von der wirtschaftlichen Schieflage Indiens nach der Covid-19-Pandemie abzulenken, bewerten Anhänger der Kongreßpartei den jüngsten Streit um Indiens Landesnamen. „Es ist eine politische Debatte, die darauf abzielt, die Opposition in Verlegenheit zu bringen, die sich mit ihrem neuen Namen die Plattform des Nationalismus wieder angeeignet hat“, pflichtet die prominente indische Politikwissenschaftlerin Zoya Hasan dieser Argumentation bei. „Das hat das herrschende Establishment erschüttert, und sie wollen ihr Monopol über den Nationalismus zurückgewinnen, indem sie sich auf Bharat berufen.“
Tatsächlich wagt sich der Kongreßler Rahul Gandhi derzeit tief in das ideologische Terrain der Hindu-Nationalisten, indem er seine Wähler beschwört, „die Idee eines Indien und die Stimme des indischen Volkes zu verteidigen“. Doch was Indien als Idee sowie die Inder als ein einiges Volk überhaupt sein sollen, scheint im Vielvölkerstaat der größten Demokratie der Erde als Konzept auch 76 Jahre nach der Unabhängigkeit noch nicht ausgereift.
Dabei werden der BJP von seiten der Opposition nicht nur die anhaltenden Konflikte zwischen der Hindu-Mehrheit und der Minderheit der rund 200 Millionen Muslime des Landes vorgeworfen, die regelmäßig zu brutalen Ermordungen in beiden Lagern führen. Auch die Vereinigung der zahllosen Ethnien des Subkontinents unter einem einheitlichen Leitgedanken brachte bislang weder die Kongreßpartei noch die BJP zustande.
Das Völkergemisch bildet einen guten Brutplatz für Separatisten
Mehr als 780 eigenständige Sprachen hatte eine 2010 unter großem Aufwand durchgeführte landesweite Studie festgestellt; 23 davon, Englisch inbegriffen, sind in Indien Amtssprachen. Verbunden mit der geographischen Abgeschiedenheit mancher Regionen, bildet das Völkergemisch einen Brutplatz für Separatisten. Mehr als 130 militante Bewegungen, die einen eigenen Staat fordern, sind den indischen Sicherheitsbehörden bekannt. Islamistische Rebellenbewegungen in Kaschmir sollen dabei von Pakistan, die Stammesbewegungen im entlegenen, nur durch einen kleinen Korridor mit dem Kernland verbundenen Osten von Myanmar und China unterstützt werden. Auch das immer noch weit verbreitete Kastenwesen fordert jedes Jahr Tote durch Haßverbrechen. Zu allem Überfluß liefern sich linksextreme Organisationen, die sogenannten „Naxaliten“, seit Jahrzehnten bewaffnete Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär, bei denen allein in den vergangenen zwanzig Jahren über 20.000 Menschen getötet wurden.
Repräsentative Umfragen, inwiefern die indische Bevölkerung den Begriff „Indien“ oder jenen von „Bharat“ bevorzugt, existieren derzeit noch keine. Eine Umfrage des südindischen Fernsehsenders Public TV brachte jedoch eine erstaunliche Präferenz der Zuschauer mit über 88 Prozent für den Namen „Bharat“ hervor.
Bereits mehrfach hatte die BJP in den vergangenen Jahren koloniale und präkoloniale Namensgebungen insbesondere aus dem Straßenbild Neu-Delhis entfernen lassen – und hierbei die Unterstützung der breiten Masse der Inder auf ihrer Seite gewußt. Neben britischen Straßennamen war 2015 auch die Aurangzeb-Straße in der Hauptstadt betroffen, als deren Namensgeber ein muslimischer Herrscher der indischen Mogul-Ära (1526–1858) fungierte. Nun heißt sie Dr.-APJ-Abdul-Kalam-Straße. Kalam (1931–2015) war ein indischer Raketeningenieur sowie vom 25. Juli 2002 bis zum 25. Juli 2007 elfter Präsident der Republik Indien und der dritte Muslim in diesem Amt.
Ob die Parlamentswahl im Mai kommenden Jahres allerdings tatsächlich als Anlaß zur Umbenennung Indiens genommen wird, darf bezweifelt werden. Auch nach ihrem Wahlsieg dürfte die BJP schließlich neben den gewichtigen Problemen der inneren und äußeren Sicherheit des Landes mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein weites Feld zu bewirtschaften haben. Für alle Fälle versucht die Kongreßpartei bereits jetzt den realpolitischen Flügel der BJP zu beschwichtigen. „Obwohl es in der Verfassung keine Einwände dagegen gibt, Indien ‘Bharat’ zu nennen, was einer der beiden offiziellen Namen des Landes ist“, mahnte dieser Tage der Kongreßpartei-Abgeordnete Shashi Tharoor, „hoffe ich, daß die Regierung nicht so dumm sein wird, ganz auf ‘Indien’ zu verzichten, das einen unschätzbaren Markenwert hat, der über Jahrhunderte aufgebaut wurde“.