© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/23 / 22. September 2023

Der Vertrauensverlust ist immens
Niederlande: Nach der Bauernpartei, die an Wählergunst verliert, gilt Pieter Omtzigt als Retter des Landes
Mina Buts

Gijs Tuinman, der für die Bauernbürgerbewegung (BBB) auf dem dritten Listenplatz antritt, platzte der Kragen. „Ihr müßt micht nicht wählen. Ich habe keine politischen Ambitionen“, verkündete der Offizier. Sein Rat: „Wählt lieber meinen Freund Derk (Boswijk) von den Christdemokraten, der ist ein guter Typ und ein Freund von mir.“ Diese Aussage ist symptomatisch für die im November anstehenden Wahlen in den Niederlanden. Denn die Christdemokraten könnten – auch wenn die CDA in den Umfragen bei höchstens fünf Prozent  der Wählerstimmen vor sich hindümpelt – ein Revival als „Christdemokratie“ 2.0 erleben.

Mona Keijzer zum Beispiel ist die Spitzenkandidatin der BBB und höchst prominent. Sie ist nämlich die einzige Staatssekretärin, die jemals in diesem Land aus ihrem Amt geworfen wurde. Und das geschah, weil sie sich 2021 zu Hochzeiten der restriktiven Corona-Maßnahmen weigerte, einen verpflichtenden Corona-Impfpaß einzuführen. „Ich kann das niemanden mehr erklären“, waren die Worte, die zu ihrer Amtsenthebung führten. Bis zu ihrer Entlassung war Keijzer bei der CDA. Ebenso wie übrigens die Parteigründerin der BBB selbst, die Journalistin Caroline van der Plas. Die BBB ist erst vor zwei Jahren mit dem Beginn der Bauernproteste gegründet worden. 

Zwar gehen vielen Landwirten ihre Ansichten zur Stickstoffreduzierung nicht weit genug, dennoch wurde sie bei den Wahlen zur Ersten Kammer im März 2023 stärkste Kraft und bestimmt seither in 10 der 12 Regionen der Niederlande die politischen Geschicke mit. 

Im Moment verliert die BBB dramatisch an Zustimmung, denn ein anderer ehemaliger Christdemokrat hat ebenfalls eine neue Partei gegründet. Pieter Omtzigt, den meisten Niederländern gut bekannt wegen des Aufdeckens der „Kinderzuschlagsaffäre“, hat den lang erwarteten und ebenso lang angekündigten Sprung gewagt und den „Neuen Sozialvertrag“ (NSC) gegründet. Ziele der neuen Partei: höhere Mindestlöhne, niedrigere Preise, bezahlbare Energie und Wohnraum verfügbar und bezahlbar machen. Ach ja, und kein Bündnis mit der PVV, denn die ist möglicherweise nicht rechtsstaatlich genug. 

Omtzigts erster Pressesprecher mußte wegen eines Tweets gehen

Mehr ist allerdings noch nicht bekannt. Die Kandidatenliste soll am 1. Oktober veröffentlicht werden. Einen Monat später, und damit noch rechtzeitig vor den Wahlen am 22. November, kommt dann das Parteiprogramm. Ihren ersten Pressesprecher hat die Partei schon nach wenigen Stunden entlassen. Jener Onno Aerden hatte es nämlich gewagt, die BBB in einem alten Tweet als „Geschwür“ zu bezeichnen und das, so Omtzigt, sei doch „wenig respektvoll“ gewesen.

Die Sehnsucht nach einer Neuauflage der „Polderpolitik“, dem einvernehmlichen Miteinander von Volk und Regierung, ist greifbar. Dabei sind die Probleme des Landes gravierend. Die „Stickstoffpolitik“ führt zum großen Bauernsterben und zielt auf eine Halbierung des Viehbestands ab. Die Zwangsenteignung der Bauern, deren Grundstücke für andere Zwecke benötigt werden, hat bereits begonnen. Die massenhafte Einwanderung aus arabischen und afrikanischen Staaten hält unvermindert an. Es gibt keinen bezahlbaren Wohnraum mehr in den Ballungsgebieten. Der Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Regierung ist nach Kinderzuschlagsaffäre, Corona- und Stickstoffpolitik immens gewachsen.

In den Umfragen zur Wahl bleibt die PVV stabil, wird jedoch durch die neuen Parteien allenfalls auf dem vierten Platz landen. Das Forum für Demokratie (FvD) sieht sich Verbotsforderungen gegenüber, Gideon van Meijeren soll wegen des „Aufrufens zu Gewalt“ vor den Kadi gezerrt werden. Es ist nicht zu erwarten, daß eine der rechten Parteien an der kommenden Regierung beteiligt sein wird. Laut Umfragen kann NSC mit über 20 Prozent der Stimmen rechnen und wäre damit mit großem Abstand stärkste Kraft. Doch FvD und BBB haben bereits durchlebt, wie es neuen Parteien ergeht. Die Vorschußlorbeeren führen zu starken Umfrage- und Wahlergebnissen, doch letzten Endes werden Personal, Struktur und zum Teil auch die Erfahrung fehlen. Als hilfreich könnte es sich erweisen, daß sich NSC aus dem Thinktank „De nieuwe denktank“ speist, der die verengte politische Debatte wieder öffnen möchte und sich damit auf die „Polderpolitik“ rückbesinnt.

Zudem haben fast alle etablierten Parteien zu den Wahlen ihr Führungspersonal ausgetauscht. Mehr als die Hälfte aller Abgeordneten, die im November zur Wahl stehen, werden ebenfalls Neulinge sein.

Da aber weder van der Plas noch Omtzigt als Ministerpräsidenten bereitstehen, könnte der Weg frei sein für den höchst umstrittenen ehemaligen EU-Kommissar für Klimaschutz Frans Timmermans, der die fusionierte Liste aus Grünen und Sozialdemokraten anführt. Ein politischer Neuanfang sieht anders aus.