© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/23 / 22. September 2023

Brüsseler Paralleldiplomatie
EU-Wahlbeobachtungsmissionen: Traurige Zeugnisse der agilen diplomatischen Unerfahrenheit der EU sowie deren selektive Berichterstattung
Patricia Chagnon

Die Wahlbeobachtungsmissionen der Europäischen Union lüften den Schleier über der politischen Agenda von Ursula von der Leyen: Nachdem ich an der vierten Wahlbeobachtungsmission während meiner Amtszeit teilgenommen habe, diesmal nach Simbabwe, ist es an der Zeit zu enthüllen, was sich hinter den Kulissen abspielt und wie die diplomatische Offensive der Kommission beschleunigt wurde.  

Was sind Wahlbeobachtungsmissionen? Jedes Jahr organisiert die EU rund zehn Wahlbeobachtungsmissionen in der ganzen Welt, für die ein Jahresbudget von rund 38 Millionen Euro zur Verfügung steht. 

Offiziell zielen diese Missionen darauf ab, den demokratischen Prozeß in Schwellenländern zu unterstützen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in Wahlprozesse zu stärken, Betrug besser zu verhindern und Einschüchterung und Gewalt während der Wahlen zu vermeiden.

Erstaunlicherweise berichten die Medien kaum über die Missionen

Von innen betrachtet haben diese Wahlmissionen eine deutlich weniger altruistische Dimension und dienen dazu, die ideologische Agenda der Kommission umzusetzen, ihre finanzielle Macht zur Durchsetzung der sogenannten „grundlegenden und universellen Rechte“ einzusetzen und sich in der Rangfolge auf Kosten der legitimen Botschafter der europäischen Länder durchzusetzen.

Wenn man in den Medien wenig oder gar nichts über diese Wahlbeobachtungsmissionen hört, dann deshalb, weil sie in Wirklichkeit eine der vielen Facetten eines umfassenden diplomatischen Programms sind, das von der Kommission gesteuert wird, die es ihrerseits sicherlich vorzieht, unter dem Radar zu bleiben, während sie diese Strategie nutzt, um die Mitgliedstaaten in ihrer diplomatischen Kompetenz schleichend zu verdrängen.

 Brüssel setzt beträchtliche Mittel ein, um seinen Einflußbereich über die Mitgliedstaaten des alten Kontinents hinaus auszudehnen. Zu diesem Zweck verfügt es über nicht weniger als 146 „Botschafter“ in der ganzen Welt, die mit Regierungen und internationalen Organisationen zusammenarbeiten. Für den Zeitraum 2021 bis 2027 wird es die astronomische Summe von 85,2 Milliarden Euro für seine außenpolitischen Maßnahmen aufwenden, was einer Steigerung von 47 Prozent gegenüber dem Haushalt für den Zeitraum 2014 bis 2020 entspricht.

Die Wahlmissionen, an denen ich teilgenommen habe, waren auch ein trauriges Zeugnis für die diplomatische Unerfahrenheit der EU und ihre selektive Berichterstattung. In Bosnien-Herzegowina mußten wir zusammen mit einem Kollegen einen erbitterten Kampf führen, um im Abschlußbericht zu erwähnen, daß wir Zeugen von nicht ordnungsgemäß versiegelten Wahlurnen geworden waren. Andere am Tisch bestanden darauf, daß wir dies weglassen sollten, um „keine Gefühle zu verletzen“.

In Albanien, aber auch in Paraguay, schienen die von der EU-Organisation einberufenen Treffen den Rechten von LGBTQIA+ und den Gemeinschaftsprojekten zur Förderung dieser Rechte übertriebene Aufmerksamkeit zu schenken. In Simbabwe war es besonders peinlich, die herablassende Haltung einiger hochrangiger Teilnehmer der Mission mitzuerleben, die sich auf „Hörensagen“ beriefen und mit dem moralischen Finger auf die Ansprechpartner vor Ort zeigten. Welch ein Kontrast zu den Vertretern der Commonwealth-Wahlbeobachtungsmission, die versuchten, Brücken zu bauen, während die EU ihre eigenen niederbrannte.

Wir erleben diese besorgniserregenden Entwicklungen genau zu dem Zeitpunkt, an dem große politische, soziale und demographische Ereignisse den afrikanischen Kontinent erschüttern. Während in Simbabwe gewählt und die Stimmen ausgezählt wurden, hielten die BRICS-Staaten (ein Zusammenschluß der Volkswirtschaften Brasiliens, Rußlands, Indiens und Chinas sowie Südafrikas) im nahe gelegenen Johannesburg in Südafrika (SA) ihren 15. Gipfel Ende August ab. Während dort die EU in den lokalen Medien heftig kritisiert wurde, gab eine Erklärung der BRICS bekannt, daß sechs weitere Länder ihrer Wirtschaftsgruppe beitreten werden, darunter zwei Länder des afrikanischen Kontinents, Ägypten und Äthiopien, und daß 40 weitere Länder ihr Interesse bekundet haben. 

Die gönnerhafte Haltung der EU spiegelt sich offensichtlich in der Art und Weise wider, wie die einzelnen Mitgliedstaaten betrachtet werden. Sie gefährdet nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Nationen, sondern schadet auch unseren diplomatischen Beziehungen.

In der heutigen, sich schnell verändernden Welt verblaßt die Stimme des alten Kontinents allmählich, und zwar genau dann, wenn sie am dringendsten gebraucht wird. Auch in diesem Bereich hat sich die EU als Totalausfall erwiesen.

Es ist dringend notwendig, die diplomatischen Fähigkeiten unserer Nationalstaaten wiederherzustellen, um Perspektiven für eine fruchtbare Zusammenarbeit zu eröffnen, um Frieden zu finden und für den Wohlstand der Völker in Afrika, in Europa und in allen Nationen der Welt zu arbeiten.






Patricia Chagnon ist EU-Parlamentsabgeordnete des Rassemblement National. Sie ist Mitglied im Ausschuß für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres sowie der Delegation in der Parlamentarischen Versammlung Europa-Lateinamerika.