© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/23 / 22. September 2023

Das Ticket gelöst
Migrationskrise auf Lampedusa: Wer es auf die kleine Mittelmeerinsel geschafft hat, dem steht das Tor nach Mitteleuropa offen. Die italienischen Behörden sind vom Ansturm überwältigt. Die JF war vor Ort
Hinrich Rohbohm

Die Schilderungen der Augenzeugen klingen dramatisch. „Das war eine Invasion. Das war wie in dem Film Troja.“ Mehr als hundert Migrantenboote waren am Dienstag, den 12. September, in den Hafen der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa eingelaufen. Küstenwache und die Guardia Finanza hatten sie nicht stoppen können, zu viele Boote hatten sich von Tunesien aufgemacht, um die von dort gerade einmal 150 Kilometer von der afrikanischen Küste entfernt liegende Insel zu erreichen.

Wochenlang sorgt ein Tiefdruckgebiet in der Mittelmeer-Region für Unwetter. Was die Überfahrt der Einwanderer Richtung Europa unmöglich macht. Gleichzeitig kommen Woche für Woche und Monat für Monat immer neue Migranten aus den afrikanischen Regionen südlich der Sahara nach Tunesien (JF 26/23). Durch das schlechte Wetter stauen sich die Schleuserboote. Als die Witterungsbedingungen besser werden, stechen um so mehr Migrationswillige in See, um die 22 Quadratkilometer kleine Insel Lampedusa zu erreichen. Der Beginn eines Ausnahmezustandes, der bis heute anhält.

Schon seit Jahren fungiert Lampedusa als Drehkreuz der Migration. Die Abläufe dabei sind eingespielt. Italienische Schiffe fahren raus aufs Meer, nehmen die Bootsinsassen auf und fahren sie in den Hafen der Insel. Nach Aufnahme der Personalien und Gesundheitschecks bringen Mitarbeiter des Roten Kreuzes die Neuankömmlinge per Bus in das zwei Kilometer außerhalb der Stadt befindliche „Hotspot“ genannte Migrationscamp. Um sie nur wenige Tage später per Fähre nach Sizilien weiterzutransportieren. Ein Prozeß, der den Tourismus auf der Insel nicht weiter in Mitleidenschaft zieht. Gäste bekommen von den Abläufen normalerweise kaum etwas mit.

Viele Inselbewohner demonstrieren gegen eine Lagerausweitung

Bis zu jenem 12. September. Durch die hohe Anzahl der Migrantenboote können Küstenwache und Guardia Finanza den Ansturm auf die Insel nicht mehr bewältigen, die Abläufe geraten außer Kontrolle. Plötzlich entstehen jene Bilder, die die Politik um jeden Preis vermeiden möchte. Dutzende Boote, überfüllt mit jungen Afrikanern, die in den Hafen von Lampedusa einlaufen.

Menschentrauben auf der Abfertigungsmole. Die hygienische und sanitäre Infrastruktur kollabiert. Die Neuankömmlinge, die ihre Notdurft an der Hafenmauer verrichten. Müll, der rund um den Hafen herumfliegt. Rettungsringe und Benzinkanister, die am Ufer verstreut liegen.

Und Chaos im Camp. Der „Hotspot“, ausgelegt für die Aufnahme von 450 Personen, ist hoffnungslos überfüllt, ein Großteil der Afrikaner muß außerhalb des Camps bleiben. Bereits Hunderte Meter vor dem Eingangstor sitzen die Migranten zu Tausenden auf der schmalen Zufahrtsstraße. Darauf wartend, von einem Bus des Roten Kreuzes zum Fähranleger gebracht zu werden.

Es sind vorwiegend junge schwarze Männer aus Regionen südlich der Sahara. Wenige Frauen und Kinder bilden die Ausnahme. Innerhalb des Camps ist die Lage längst außer Kontrolle geraten. Massen von Einwanderern drängen zum Eingangstor. Verzweifelt mit einem Schlagstock herumfuchtelndes Wachpersonal versucht, die Menge zurückzudrängen. Überforderte Rotkreuz-Mitarbeiter heben hilflos und resignierend die Hände, so als wollten sie sagen: „Was soll ich denn machen?“

Einige der Migranten versuchen ihren Landsleuten zu erklären, daß sie zurückbleiben sollen, fordern auf, sich zu beruhigen. Vergeblich. Rotkreuz-Busse und Transporter versuchen, sich hupend einen Weg durch die Menge zu bahnen. Soldaten schirmen die Seitenwege rund um das Camp ab. Die waren vor einigen Monaten noch zugänglich. „Jetzt nicht mehr“, sagt einer der Soldaten zur JF in strengem Tonfall.

Immer, wenn sich einer der Rotkreuz-Busse seinen Weg über die holprige Schlagloch-Piste vom Camp Richtung Stadt durch die Menge bahnt, wird es unruhig unter den Migranten. Jeder möchte mit. Zum Fährhafen. Auf die Fähre und dann ab auf das Festland Europas. Jeder weiß: Ist man dort, hat man es geschafft. Abschiebungen zurück nach Afrika funktionieren nur in den seltensten Fällen.

Die Menge, derer die nicht mitkann, setzt sich selbst in Bewegung. Hunderte Schwarze laufen Richtung Innenstadt. Plötzlich bevölkern sie die Via Roma, die touristische Flaniermeile der Insel. Einige betteln um Essen, andere laufen Barfuß durch die Straßen, Ladeninhaber spendieren ihnen Schuhe. Wieder andere Einwanderer wollen gleich weiter zum Fähranleger.

Dort haben sich knapp 500 der etwa 5.000 Einwohner versammelt. Sie haben gehört, daß Zelte nach Lampedusa unterwegs sein sollen, um weitere Kapazitäten zu schaffen. „Aber genau das wollen wir nicht. Wir wollen nicht noch mehr Migranten, die Leute sind im Laufe der Jahre müde geworden“, sagt Michele Prester, Bootsbetreiber und Schwiegersohn von Lampedusas Ex-Bürgermeister Bruno Siragusa.

Die Lage ist angespannt. Die Einwohner wollen die Hafeneinfahrt blockieren, damit das mutmaßliche Material nicht auf die Insel gelangen kann. Polizei steht mit Schutzschilden vor dem Anleger, die Fähre hat vor der Hafeneinfahrt vorerst gestoppt. Schließlich die Botschaft: Es werden keine Zelte ausgeladen. Ein Militärlastwagen, in dessen Anhänger die Einwohner sie als Ladung vermuten, fährt zwar aus der Fähre heraus, bleibt jedoch stehen und fährt nicht auf die Insel.

„Ich erwarte von der Regierung und von der EU, daß sie uns zwei Schiffe zur Verfügung stellt, auf die die Migranten gebracht werden, damit sie gar nicht erst auf die Insel kommen“, fordert Lampedusas Vize-Bürgermeister Attilio Lucia im Gespräch mit der JF. Eine Forderung, der die Politik bisher nicht nachgekommen ist. Stattdessen erscheinen die italienische Premierministerin Giorgia Meloni von den rechten Fratelli d’Italia und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) einen Tag später auf Lampedusa. Da heißt es Bilder machen. Sich als Kümmerer geben. Symbolpolitik betreiben. Ankündigungen. Versprechungen.  Einen Zehn-Punkte-Plan vorlegen. Wieder abfliegen.

So in etwa kann man den Auftritt zusammenfassen. Denn konkrete Lösungen haben die Politiker nicht im Gepäck, nicht mal die zwei geforderten Schiffe können sie zusagen. Stattdessen gebe es nun: eine Verstärkung der Unterstützung Italiens, die Unterstützung der Überstellung von Menschen aus Lampedusa, abermals die Intensivierung der Rückkehroperationen, Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern zur Bekämpfung des Menschenschmuggels, Verstärkung der Grenzüberwachung, Maßnahmen gegen den Einsatz seeuntüchtiger Schiffe, mehr Gelder für die EU-Asylagentur, Kommunikationskampagnen, um vor einer Mittelmeerüberquerung zu warnen, bessere Zusammenarbeit mit UNHCR und IOM sowie die Umsetzung der Vereinbarung mit Tunesien. „Die haben selber auch nicht mit diesen großen Zahlen an Migranten gerechnet“, meint Vize-Bürgermeister Lucia. Eine Aussage, die angesichts der seit Jahren anhaltenden Masseneinwanderung für sich spricht.

Die EU ist hilflos. Ein neuer Zehn-Punkte-Plan soll helfen

„Die Ergebnisse des Besuchs sind unbefriedigend“, so sieht auch Michele Prester die Stippvisite der beiden Politiker kritisch. Gemeinsam mit ihm fährt die JF eine Seemeile hinaus auf das Mittelmeer. Auf einem modernen Motorboot fahren wir vorbei an einem Schiff der Küstenwache, das gerade mit neuen Afrikanern an Bord in den Hafen einläuft. Die Wetterbedingungen sind gut. Es ist sonnig, wenig Wind. Und doch wird schnell klar, warum es eigentlich unmöglich ist, daß Migranten mit ihren kleinen Booten von Afrika aus über das Mittelmeer nach Lampedusa kommen.

Denn unser Boot ist schon hier, noch in Küstennähe mächtig am Schaukeln. „Und jetzt stell dir mal vor, du bist auf einem der Migrantenboote, weit draußen auf dem Meer mit über 50 Leuten drin“, verdeutlicht Prester. Wie ist es dann möglich, daß die Einwanderer auf ihren Booten in den Hafen einlaufen konnten?

„Fischerboote aus Tunesien ziehen die Boote über das Mittelmeer“ ist Prester überzeugt. Mitarbeiter der italienischen Küstenwache hätten das beobachtet. Angeblich sollen die tunesischen Fischer die Boote bis an die italienische Zwölf-Meilen-Seegrenze ziehen. Und manchmal sogar darüber hinaus. Erst danach seien die Afrikaner auf sich allein gestellt, würden dann nach einigen Stunden von der italienischen Küstenwache aufgelesen.

„Die meisten Unglücke passieren bei der Rettung“, erklärt Prester. Wenn die Afrikaner ein Schiff der Küstenwache sehen, werde es automatisch unruhig auf dem Boot. Die Menschen würden aufstehen, Hilfe suchend gestikulieren. „Diese kleinen Bewegungen reichen, um die überladenen Boote zum Kentern zu bringen.“

Prester kann sich auch an Situationen erinnern, in denen Einwanderer mit ihren Booten auf die Felsenküste im Westen der Insel zusteuerten. „Von dort war es schwer möglich, sie zu retten,“ Die Migranten hätten dort versucht, die Felsen hochzuklettern, um auf die Insel zu gelangen.

Auf der anderen Seite der kleinen Insel wollen die Einwanderungswilligen unterdessen die Mittelmeerinsel wieder verlassen. Sie werden mit Bussen an eine Anlegestelle gefahren, die sich außerhalb der Stadt befindet und von der aus der Großteil der Migranten auf die Fähre gebracht wird. Hunderte harren hier aus, immer mehr Busse kommen an, bringen weitere Einwanderer. Das nächste Ziel lautet Sizilien. Und damit der dauerhafte Aufenthalt in Europa.