Genau 282 Tage ist Jonas Kratzenberg, Jahrgang 1997, Soldat der ukrainischen Armee – erst bei der Internationalen Legion, dann den regulären Streitkräften, zwischendurch im Militärgeheimdienst sowie einer irregulären Miliz. So jedenfalls heißt es in der Bundestags-Drucksache 20/7648. Die dokumentiert eine Kleine Anfrage mehrerer Linken-Abgeordneter, die von der Ampelregierung Aufklärung über Berichte „möglicher Völkerrechtsverletzungen und Verwendung von Nazi-Emblemen in der ukrainischen Armee“ verlangen.
Denn von all dem erzählt Kratzenberg ganz offen in seinem Buch „Schützenhilfe. Für die Ukraine im Krieg – ein deutscher Soldat berichtet von der Front“ sowie in Interviews mit Zeitungen, Onlineportalen, Fernseh- und Radiosendern: von der Verbreitung von NS-Symbolen unter Kiews Kämpfern, vom Mißbrauch des Rot-Kreuz-Schutzzeichens, von der Mißhandlung Kriegsgefangener und der Ermordung eines russischen Zivilisten und dreier Soldaten, die sich ergeben hatten, durch seine ukrainischen Kameraden.
Kratzenberg, schmal von Statur, sagt, er habe schon immer eine Liebe für alles Militärische empfunden, für Uniformen, Waffen, die Kameradschaft, den Soldatenalltag. Der US-Kriegsfilm „Black Hawk Down“ über den Kampf amerikanischer Soldaten im somalischen Mogadischu 1993 begeistert ihn so, daß sich der bei Aachen aufgewachsene Abiturient 2018 zu den Panzergrenadieren und 2019 nach Afghanistan meldet. Doch von dort kehrt er nach drei Monaten, ohne ein Gefecht erlebt zu haben, wegen einer Verletzung zurück. Der Stabsgefreite will nun Offizier werden, quittiert dann aber, nach vier Jahren Bundeswehr, den Dienst, weil er nach einer Versetzung mit den neuen Vorgesetzten und Kameraden nicht klarkommt.
Kratzenberg erzählt vom erbärmlichen Zustand der Armee, Korruption, hirnlosen Befehlen, sinkender Moral.
Als Tage vor seiner Entlassung Rußland die Ukraine überfällt, meldet sich Kratzenberg als Freiwilliger. Zu 65 Prozent aus idealistisch-moralischen Gründen – um Europa zu verteidigen –, zu 35 Prozent, um das Gelernte endlich anzuwenden: „Ich wollte die Schlacht kennenlernen: Ein Dachdecker möchte aufs Dach – der Soldat ins Gefecht.“
Von Kratzenbergs letztem Kampf neun Monate später gibt es Luftaufnahmen: In zwei Armeegeländewagen kurvt seine Gruppe unter russischem Beschuß über ein Feld. Dann eine Explosion: Einer der „Humvees“ ist auf eine Mine gefahren, ein Soldat stirbt. Sie brechen den Angriff ab, doch beim Rückzug erwischt es den Deutschen: Eine Drohne wirft eine Granate ab.
Um Haaresbreite dem Tod entkommen, wacht der junge Mann Tage später im Krankenhaus auf. Mit Metallsplittern im ganzen Körper kehrt er nach Deutschland zurück, schreibt ein Buch und wird zum begehrten Gesprächspartner, etwa bei Markus Lanz. Denn was er berichtet, klingt ganz anders als die üblichen Nachrichten. Kratzenberg zeichnet ein ungeschöntes Bild vom Infanteriekampf an der Front, vom erbärmlichen Zustand der Legion und ukrainischen Armee. Er hält die Verlustmeldungen Kiews für geschönt, erzählt von Waffendiebstahl, Korruption, hirnlosen Befehlen, von sinkender Moral, weil zu vieles fehlschlägt.
Zurück will er nicht mehr, trotz einer „gewissen Sehnsucht und Heimweh“ nach den Kameraden, die „unfaßbar tolle Kerle“ sind. Doch die Zeit des Kämpfens sei für ihn vorbei – auch weil er inzwischen eine Freundin hat und damit „zu viel zu verlieren“.