Florianópolis, die Hauptstadt des boomenden Bundesstaats Santa Catarina, ist eine der schönsten Städte Brasiliens. Die Stadt liegt auf dem Festland und auf einer Atlantikinsel mit langen Sandstränden, Brücken verbinden beide Teile. Am Meer zieht sich wie an der Copacabana in Rio eine belebte Uferpromenade entlang. Hier sitzen wir abends in einem schattigen Biergarten. Zwei Männer treten an unseren Tisch und fragen, ob sie sich zu uns setzen dürfen. Wir seien sicherlich Deutsche, und sie sprächen auch Deutsch.
Ademir Schuck und Vantuin Seger sind Wochenendtouristen aus Rio Grande do Sul, Brasiliens südlichstem Bundesstaat. Sie haben einen eigentümlichen Dialekt. „Hunsrückisch“, wie wir später erfahren. Ihre Vorfahren aus dem Hunsrück und aus der Pfalz seien „alle mit dem gleichen Schiff gekommen“, erzählt Vantuin. Er betreibt einen „Gasoline-Posten“, eine Tankstelle also, Ademir eine Bäckerei mit Lebensmittelladen. Die beiden wohnen mit ihren Familien in einem Ort namens Santa Maria do Herval, auch Teewald genannt, nördlich von Porto Alegre. Dort sollen wir sie unbedingt besuchen, sagen sie beim Abschied.
Ademir und Vantuin sind nicht die einzigen Deutschen, die wir auf dieser Reise treffen. Auf mindestens fünf bis sechs Millionen schätzen Migrationsexperten die Zahl der deutschstämmigen Brasilianer. Die meisten von ihnen leben in den südlichen Bundesstaaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul sowie im stark industrialisierten Großraum São Paulo. Eine der prominentesten und erfolgreichsten Deutschbrasilianerinnen der Gegenwart ist das Supermodel Gisele Bündchen, die in der Kleinstadt Horizontina im Bundesstaat Rio Grande do Sul aufgewachsen ist. Dabei spricht mittlerweile nur ein Bruchteil der deutschstämmigen Brasilianer auch die deutsche Sprache. Offizielle Zahlen existieren nicht, aber Schätzungen des Marius-Staden-Institutes gehen von knapp einer halben Million Brasilianer aus, die Deutsch beherrschen. Diese Bevölkerungsgruppe konzentriert sich auf die Staaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul. In einigen Gemeinden, in denen noch viele meist in der Familie und im Freundeskreis Deutsch sprechen, ist Deutsch sogar die zweite Amtssprache oder es existiert ein verpflichtender Deutschunterricht.
Einer der ersten Deutschen in Brasilien war Hans Staden, der 1549 nach einem Schiffbruch in die Hände der gefürchteten Tupinambá-Indianer fiel, aber sein Leben retten konnte. Zurückgekehrt nach Deutschland, schrieb er das Buch „Die wahrhaftige Historie der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser-Leute“, das mehrmals aufgelegt wurde. Johann Moritz Graf von Nassau war der bekannteste Deutsche im Brasilien des 17. Jahrhunderts. Als Statthalter der Holländisch-Westindischen Kompagnie in Pernambuco residierte er in Recife und holte deutsche Naturforscher, Architekten und Künstler ins Land. Erzherzogin Leopoldine von Österreich, verheiratet mit Kronprinz Pedro und spätere Kaiserin Brasiliens, war die treibende Kraft beim brasilianischen Kampf um die Unabhängigkeit von Portugal. Leopoldine warb Siedler aus Europa an. 1824 landeten deutsche Handwerker und Bauern in Rio Grande do Sul, wo sie den nach der Kaiserin benannten Ort São Leopoldo gründeten. Ihre Ankunft gilt als Beginn der organisierten Einwanderung der Deutschen nach Brasilien. Zum 100. Jahrestag, am 25. Juli 1924, wurde in São Leopoldo ein großes Einwandererdenkmal eingeweiht.
Verbot der deutschen Sprache und Kultur im Zweiten Weltkrieg
Um 1830 zählte man schon rund 10.000 deutsche Einwanderer, vor allem aus Pommern, Sachsen, Westfalen und dem Sudetenland, später auch aus dem Rheinland, von der Mosel und aus dem Hunsrück. Viele fanden ein gutes Auskommen als Bauern oder Handwerker, aber auch als Kaufleute oder Ärzte. Im Staat Santa Catarina entstanden die Orte Blumenau und Pomerode. 1852 erschien Brasiliens erste deutsche Zeitung Der Kolonist. Um 1900 erlebte die deutschsprachige Presse mit mehr als 60 Zeitungen ihre Blütezeit. Zäsuren brachten der Erste und vor allem der Zweite Weltkrieg, in den Brasilien 1942 auf Drängen der USA eintrat. Deutsche Zeitungen wurden verboten. Etwa 2.000 deutsche Privatschulen wurden geschlossen, ihre Gebäude beschlagnahmt, die deutschen Vereine aufgelöst. Deutsch zu sprechen war in der Öffentlichkeit bei Strafe untersagt.
Erst in den 1950er Jahren besserte sich die Situation. 1952 erwarben 500 donauschwäbische Flüchtlingsfamilien mit Schweizer Hilfe Land in der Provinz Paraná. Sie gründeten die Siedlung Entre Rios, eine der erfolgreichsten deutschen Kolonien in Brasilien, zu der auch eigene Schulen und ein modernes Krankenhaus gehören. 1974 wurde sogar ein Deutschbrasilianer Präsident des Landes: Ernesto Geisel, dessen Vorfahren aus Kronberg im Taunus stammten. Auf Einladung der brasilianischen Regierung eröffneten viele deutsche Unternehmen Niederlassungen im Großraum São Paulo. Autofabriken und Zulieferbetriebe entstanden. Seit Ende der siebziger Jahre nennt man São Paulo deshalb auch die „größte deutsche Industriestadt außerhalb Deutschlands“. Hier wurde viele Jahre die deutschsprachige Zeitung Brasil-Post gedruckt, die leider 2012 ihr Erscheinen eingestellt hat.
Abstecher nach Joinville, mit einer halben Million Einwohner die größte Industriestadt von Santa Catarina. Der Name läßt es nicht vermuten, doch auch diese Stadt wurde 1850 von deutschen Einwanderern gegründet. Die Idee hatte der Hamburger Kaufmann Christian Matthias Schröder, dessen Sohn hanseatischer Konsul in Rio war. In der Villa Bruestlein, dem Einwanderermuseum am Ende einer von Palmen gesäumten Allee, läßt sich die Geschichte nachempfinden. Fotos, Urkunden, ein Speise- und ein Schlafzimmer, sogar eine Vitrine mit Meißner Porzellan versetzen den Besucher in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Straßen tragen deutsche Namen. Zum Beispiel den von Ottokar Dörffel. Der war Bürgermeister von Glauchau in Sachsen. Nach der Niederschlagung der 1848er Revolution wurde Dörffel wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Zwar sprach man ihn später frei, doch Dörffel zog es vor, mit seiner Frau Ida nach Brasilien auszuwandern. Dort wurde der Sachse Bürgermeister von Joinville. Als Journalist und Verleger gab Dörffel die deutschsprachige Colonie-Zeitung heraus, die seit 1862 fast achtzig Jahre erschien. Noch heute kann man in Joinville im Hotel Tannenhof (mit Fachwerk-Fassade) nächtigen und den Abend in Lokalen ausklingen lassen, die Zum Schlauch oder Bierecke heißen.
Die 30.000-Einwohner-Stadt Pomerode wirbt mit dem Slogan „Die deutscheste Stadt Brasiliens“ (A Cidade mais Alemã do Brasil). Ein stilvoller Nachbau des Stadttores von Stettin begrüßt die Besucher, bevor sie im Hotel Bergblick oder im Hotel Schröder absteigen, im Restaurante Siedlertal speisen und in der Hausbrauerei Schornstein ihren Dämmerschoppen trinken. Viele der roten Backsteinhäuser könnten auch in Norddeutschland stehen. Wir kommen mit Renno und Daniel ins Gespräch. „Alles gut?“, fragen sie, als sie hören, daß wir aus Deutschland kommen. Alljährlich im Januar steige hier in Pomerode das einwöchige Pommern-Fest mit Blasmusik und Tanz, schwärmt Daniel.
Fast alle Geschäfte in dieser Gegend tragen deutsche Namen
Blumenau, zehnmal so groß wie Pomerode, ist nur eine halbe Busstunde entfernt. Während der Fahrt schauen wir aus dem Fenster: Neubert, Müller, Dreher, Schneider, Ullrich – fast alle Geschäfte in dieser Gegend tragen deutsche Namen. Gegründet wurde Blumenau 1850 von dem Apotheker und Chemiker Hermann Blumenau aus Hasselfelde im Harz. Hier hat Südamerikas größtes Textilunternehmen seinen Sitz, die Firma Hering, gegründet 1880 von den Brüdern Bruno und Hermann Hering aus Hartha bei Chemnitz. Bekannt ist die Stadt seit 1983 auch durch ihr Oktoberfest, nach München das zweitgrößte der Welt. In der Innenstadt fällt ein spitzgiebeliges Haus auf. Eine dreisprachige Informationstafel (portugiesisch, englisch, deutsch) klärt auf: Es handelt sich um eine Nachbildung des Rathauses von Michelstadt im Odenwald, des ältesten Rathauses in Deutschland (erbaut 1484).
Sechs Autostunden westlich von Blumenau liegt Treze Tilias, das „brasilianische Tirol“, gegründet am 13. Oktober 1933 als Dreizehnlinden vom damaligen österreichischen Landwirtschaftsminister Andreas Thaler. Bekannt ist der Ort durch seine Molkerei, Milch der Marke „Tirol“ ist allgegenwärtig in Süd-Brasilien. Der Reisende hat die Wahl zwischen dem Hotel 13 Linden, dem Hotel Alpenrose oder der Pousada Edelweiss, allesamt im alpenländischen Stil. Abends läuft deutsche Volksmusik.
Ein komfortabler Fernbus bringt uns auf gut ausgebauter Autobahn weiter nach Süden in die Großstadt Porto Alegre. Umsteigen nach Gramado, einem mondänen Urlaubsort in den Bergen, auch das „brasilianische St. Moritz“ genannt. Eine Deutsch sprechende Verkäuferin gibt uns einen Tip: Fahrt nach Nova Petropolis! Dort erwartet uns Opas Kaffeehaus mit Apfel-, Streusel- und Käsekuchen, gegründet 1986 vom Lehrer Gerhard Kolb und seiner Frau. Mitten in der Stadt steht eine überdimensionale Weihnachtsmann-Figur. Mit kurzen Hosen, ist ja warm hier im Dezember. Im Volkspark gibt es ein Freilicht-Museum zur deutschen Einwanderung mit Kirche, Pfarrhaus, Friedhof, Tanzsaal, Schule, Schmiede und Wohnhaus. Im Biergarten wird gerade ein Fest eröffnet. Eine Blaskapelle spielt, Paare drehen sich beim Tanz. An der Hauptstraße entdecken wir eine Ehrentafel zur 100-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Brasiliens und zur 64. Jahresfeier deutscher Einwanderung in Nova Petropolis: „Den Vätern zur Ehre! Uns zur Lehre! Dem Vaterland zum Heil“, Nova Petropolis, 7. September 1922.
Nicht weit von Nova Petropolis liegt der kleine Ort Teewald. Dort besuchen wir Ademir und Vantuin. Ademir bewirtet uns mit Kuchen und Wurst, Vantuin lädt uns an seinem „Gasoline-Posten“ zum Bier ein. Sie zeigen uns ihren Ort, die Sporthalle, die Schuhfabrik, das Heimatmuseum, den Grillplatz und die Kirche mit dem Altarspruch „Maria mit dem Kinde lieb, uns allen deinen Segen gib“. Im kommenden Jahr, 2024, verraten uns die beiden, wird hier in Süd-Brasilien ein besonderes Jubiläum gefeiert: 200 Jahre deutsche Einwanderung.