© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/23 / 15. September 2023

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Ulf Poschardt hat als Ursache der erstaunlichen Zustimmungsrate für die Freien Wähler nach der sogenannten „Aiwanger-Affäre“ treffend „Reaktanz“ festgestellt. Darunter versteht man in der Psychologie die Abwehrhaltung, die ausgelöst wird, wenn jemand sich in seinem Bewegungsspielraum immer weiter eingeschränkt sieht. Bei den Deutschen ist die entsprechende Empfindung eher schwach ausgeprägt. Doch kann offenbar selbst bei unserem schafsgeduldigen Volk ein Punkt erreicht werden, an dem es auf zunehmenden Druck, wenn nicht mit Widerstand, dann doch mit Trotz reagiert.

˜

Es müßte jedem aufrechten Antifaschisten zu denken geben, daß der Studentenausweis schon einmal – in der NS-Zeit – „Studierendenausweis“ hieß.

˜

Ob die indische Regierung unter Narendra Modi tatsächlich die Absicht hat, den Staatsnamen in „Bharat“ zu ändern, ist noch ungeklärt. Das Wort kommt bereits in den vedischen Schriften vor und leitet sich von dem Namen eines Urkönigs Bharata ab. In jedem Fall würde ein solcher Schritt zu anderen Weltanschauungsprojekten passen, die die Hindunationalisten vorantreiben. Bemerkenswert ist nicht nur die Energie, mit der sie die symbolischen Reste aller Fremdherrschaft – der Briten, aber auch der muslimischen Eroberer – zu tilgen suchen, sondern auch die Intensität der Parteinahme im „Historikerstreit“ um die „Arier-Frage“. Es stehen sich hier zwei Fraktionen unversöhnlich gegenüber: die „Orthodoxen“, die daran festhalten, daß vor etwa viertausend Jahren eine Invasion arischer Stämme stattfand, die große Teile des Subkontinents unterwarfen, und die „Revisionisten“, die behaupten, daß Indien seit je die Heimat der Arier war. Entsprechende Vorstellungen, die immer auf die Gleichsetzung von „Inder“ mit „Hindu“ und „Arier“ abzielen, spielten seit je eine Rolle für den Hindunationalismus. Schon dessen Protagonisten Swami Vivekananda und Sri Aurobindo bekämpften die Auffassung, daß die Arier „von außerhalb“ nach Indien gekommen seien. Neuerdings geht es vor allem darum, die Harappa-Zivilisation – eine Hochkultur der Bronzezeit, die schon Städtebau und Schrift kannte – den Ariern zuzurechnen. Entsprechende Annahmen werden zwar nur von wenigen Wissenschaftlern geteilt, sie scheinen aber in der Bevölkerung erhebliche Sympathie zu genießen. Selbst unter US-Bürgern indischer Herkunft ist sie populär, wenngleich deren Versuch, eine entsprechende Geschichtsdeutung in amerikanische Schulbücher einfließen zu lassen, bisher scheiterte. Was vor allem damit zu tun hat, daß ihnen die üblichen weißen Helfershelfer der Dekolonialisierung den Schulterschluß verweigern. Inder passen offenbar nicht in deren Opfer-Schema, und man stört sich am völkisch-fundamentalistischen Zug einer farbigen Weltanschauung, der sonst nie davon abhält, die absurdesten Behauptungen zu verteidigen, wenn es um die angebliche Größe und Güte des globalen Südens geht.

˜

Die französische Post hatte die charmante Idee, in den großen Magazinen eine Anzeige zu schalten, mit der sie für das Schreiben von Ansichtskarten aus dem Urlaub wirbt. Beigefügt war immer ein Exemplar, das man unschwer herauslösen und gleich versenden konnte.

˜

Kriminalserie, ZDF: Karen Pirie (weiß, weiblich, von einer Statur, die die Frage aufwirft, ob die Polizei überhaupt noch eine Mindestgröße für den Diensteintritt fordert) ermittelt in einem sogenannten „Cold Case“. Verdächtig des Jahrzehnte zurückliegenden Mordes an einer jungen Frau (weiß, ledige Mutter, die ihr Kind auf männlichen Druck zur Adoption freigegeben hat, drangsaliert von ihren übergriffigen, proletaroiden Brüdern) sind ein Arzt (weiß, schwul „verheiratet“), ein Künstler (schwarz, gerade Vater geworden) und ein Dozent (weiß, ehemals drogenabhängig, jetzt Borderliner). Alles spricht gegen die drei, aber selbstverständlich können sie es nicht gewesen sein. Der Täter war ein hochrangiger Polizeibeamter (weiß, Krawattenträger, Naturfreund, Angler, traditionelles Frauenbild).

˜

„Tatort“, ARD, „Erbarmen. Zu spät“: Die Ermittler suchen im Umland von Frankfurt am Main nach der Leiche eines Polizisten, der einem rechten Komplott von Kollegen (Ausgangspunkt: Offenbach!) zum Opfer gefallen ist. Die Schuldigen können allerdings nicht gefaßt werden. Der Film endet bedeutungsschwer-düster mit einer kleinen Apokalypse – Blutregen (Offenbarung 11.6) –, die die Wohlstandsverwahrlosten nicht begreifen, so wenig wie die Tatsache, daß die faschistischen Verschwörer im Staatsdienst längst „zu viele“ sind und sich kaum noch verhindern läßt, daß sie „nächstes Jahr“ die Macht ergreifen und ihre Feinde massakrieren. Man kann den Plot als aktive Wahlkampfhilfe für Nancy Faeser („Rechtsextremismus ist die größte extremistische Gefahr in Deutschland“) auffassen oder als eines der beliebten Antifa-Märchen oder als Versuch der tonangebenden Kreise, jene alternative Wirklichkeit zu festigen, die man schon im Hinblick auf das hessische SEK herbeiphantasiert hatte, dessen Männer „vom Land vergessen und weggeworfen“ wurden, um einen der Betroffenen zu zitieren.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 28. September in der JF-Ausgabe 40/23.