Nach der im letzten Sommer verkündeten Mobilmachung für Rußlands Krieg gegen die Ukraine durften sich die Anbieter von Online-Therapien über einen Zuwachs von 74 Prozent freuen. Wie er selbst, befänden sich große Teile der russischen Gesellschaft kriegsbedingt in „schlimmer psychischer Verfassung“, klagt Boris Shapiro. Für diese Diagnose unterteilt der Psychotherapeut, der in Moskau an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften die Fakultät für Praktische Psychologie leitet, die Bevölkerung grob in drei Gruppen: Erstens in jene, die mental oder sogar als Emigranten alle Verbindungen zu Rußland abbrechen. Zweitens in Patrioten, für die Heimat ein wichtiger Teil ihrer Identität sei. Aus dieser Gruppe stammen die 70 Prozent der Unterstützer der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine. Diese seien aber seelisch mit sich nur scheinbar im reinem, weil Menschen in Rußland über Generationen hinweg eine Haltung eingeübt haben, die in der Psychologie „external locus of control“ heißt. Als autoritäre Persönlichkeiten hätten sie verinnerlicht, was die Obrigkeit erwartet. Eine dritte Gruppe lebe in „neurotischer Zerrissenheit“ zwischen Heimatverbundenheit einerseits, unterdrücktem Schmerz und Schamgefühl andererseits. Um in konfliktgeladenen Zeiten psychisch ins Gleichgewicht zu kommen, rät Shapiro vor allem dieser Gruppe: „Laßt den Fernseher aus!“ Denn die desinformierende Berichterstattung staatlicher Medien bildet die Welt nur im Zerrspiegel ab. Das russische Fernsehen verwandle daher Zuschauer, die ihm vertrauten, in „Zombies“, die selbst zu Mitgefühl mit dem Kriegsgegner nicht mehr in der Lage seien (Psychologie heute, 9/2023).