Der Krieg in der Ukraine findet nicht mehr nur auf ukrainischem Territorium statt, sondern seine Folgen sind nun auch in mehreren anderen Regionen der Welt zu spüren. Seine Auswirkungen sind im Südkaukasus offensichtlicher denn je, wo die „spezielle Militäroperation“ einen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan entfacht, der bereits seit Jahrzehnten andauert und nun eine noch nie dagewesene humanitäre Krise verursacht. Seit dem ersten blutigen Krieg Anfang der 1990er Jahre, der während des Zusammenbruchs der Sowjetunion ausbrach, befinden sich diese beiden Länder in einem ständigen Konflikt, der sich hauptsächlich um Bergkarabach dreht, eine umstrittene Region, die nach internationalem Recht zu Aserbaidschan gehört, aber historisch gesehen hauptsächlich von Armeniern bewohnt wird.
Hier bildete sich in den vergangenen dreißig Jahren ein international nicht anerkannter Staat, der de facto mit Armenien verbunden ist. Ein Staat, der wahrscheinlich bald aufhören wird zu existieren und Teil von Aserbaidschan werden wird. Bereits im Jahr 2020 hatte Baku, unterstützt von der Türkei und mit militärischer Unterstützung Israels, einen großen Teil Karabachs angegriffen und erobert.
Bei dieser Gelegenheit wurde ein Straffrieden für die Armenier geschlossen, bei dem ein großer Teil der Region zu Aserbaidschan kam. Zehntausende Armenier mußten überstürzt ihre Häuser verlassen, die in aserbaidschanische Hände fielen. Nur ein kleiner Teil von ihnen, etwa 120.000 Einwohner, konnte in den wenigen Gebieten bleiben, die nicht in die Hände von Baku fielen und die über eine einzige Landverbindung mit Armenien verbunden blieben: den Latschin-Korridor. Eine Straße zwischen Bergen, deren Kontrolle in die Hände eines Kontingents von 2.000 russischen Soldaten überging, die die Bewegungsfreiheit und Sicherheit der armenischen Bevölkerung gewährleisten sollten.
Armenien und Rußland sind durch ein enges Bündnis miteinander verbunden. Beide sind Mitglieder der von Moskau geführten „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS), die im Falle eines Angriffs auf eine der beiden Seiten für gegenseitige Verteidigung sorgt. Sollte Armenien angegriffen werden, sollte es von Moskau verteidigt werden.
Der Krieg in der Ukraine hat jedoch alles verändert. Vom Westen isoliert und von Wirtschaftssanktionen betroffen, erhöhte Rußland seine Kohlenwasserstoffexporte nach Aserbaidschan, um das Embargo zu umgehen. Baku, selbst ein großer Rohstoffproduzent, kauft von Moskau Gas und Öl, das es für seinen gesamten Bedarf verwendet. Auf diese Weise kann Aserbaidschan seine eigenen Kohlenwasserstoffe in großem Umfang in die Europäische Union exportieren, die sich nicht mehr aus Moskau versorgen will.
Diese Energie-Dreiecks-Konstruktion ermöglicht es, Sanktionen zu umgehen, und macht Aserbaidschan zu einem strategischen Partner sowohl für Rußland als auch für die europäischen Länder, wobei die politischen Kosten von den Armeniern getragen werden.
„Ein aggressives Nato-Land will in den Südkaukasus eindringen“
Seit Februar 2022 hat Baku den Druck entschieden erhöht und beansprucht die vollständige Kontrolle über Bergkarabach und sogar über einen Teil Armeniens. Baku griff Armenien wiederholt an und besetzt 150 Quadratkilometer des armenischen Territoriums. Niemand, weder Russen noch Europäer, hat jemals seine Stimme erhoben. Rußland hat nicht nur nicht eingegriffen, als Armenien angegriffen wurde, sondern auch akzeptiert, daß aserbaidschanische Soldaten de facto die Kontrolle über Latschin übernahmen und den Waren- und Personenverkehr behindern. 120.000 Armenier sitzen in Bergkarabach fest, wo es an Lebensmitteln und Medikamenten mangelt und die Menschen unter katastrophalen Bedingungen leben.
Angesichts der für Armenien desaströsen Situation drohte Armeniens Premierminister Nikol Pashinjan Ende Mai mit dem Austritt aus der OVKS. Bereits Ende Januar hatte Moskau Eriwan heftig dafür kritisiert, eine Entscheidung zugunsten der EU getroffen zu haben. Das russische Außenministerium stellte klar, daß das Erscheinen von EU-Vertretern in den Grenzregionen Armeniens nur dazu diene, die bestehenden Differenzen zu verschärfen und ein geopolitisches Patt in der Region auszulösen. Einen Monat später erklärte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, nach Angaben der Nachrichtenagentur Tass, daß Moskau hinter der zivilen Mission der EU in Armenien rein geopolitische Motive sehe, die weit von den Interessen an einer Normalisierung der Lage im Südkaukasus entfernt seien, sowie einen Versuch, Rußland aus der Region zu drängen.
Bis heute haben sich die russisch-armenischen Beziehungen nicht verbessert. Im Gegenteil. Rußland bedauere die armenischen Absichten, gemeinsame Übungen mit den Vereinigten Staaten abzuhalten, kritisierte der russische Außenminister Sergej Lawrow auf einer Pressekonferenz nach dem G20-Gipfel am Sonntag. „Natürlich sehen wir wenig Gutes in dem Versuch eines aggressiven Nato-Landes, in den Südkaukasus einzudringen. Ich glaube nicht, daß dies für irgend jemanden gut ist, auch nicht für Armenien selbst“, antwortete Lawrow auf eine Frage von Tass.
Am vergangenen Mittwoch hatte das armenische Verteidigungsministerium bekanntgegeben, daß das Land im Südkaukasus vom 11. bis 20. September eine gemeinsame Militärübung mit den USA („Eagle Partner 2023“) ausrichten werde. Angaben der USA zufolge zielt diese Initiative darauf ab, das Bündnis mit Armenien zu stärken, wobei der Schwerpunkt auf der Verbesserung der Interoperabilität und der Einsatzbereitschaft durch eine spezielle Ausbildung für friedenserhaltende Maßnahmen liege. An der Übung sollen etwa 85 US-Mitarbeiter und 175 armenische Teilnehmer beteiligt sein. Um Armenien nicht ganz zu verprellen, betonte Dmitri Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten, nach Angaben von RIA Novosti am Montag, daß Rußland ein enger Verbündeter und Partner Armeniens bleibe. Man wolle die entstandenen „bestimmten Probleme“ mit Armenien im „Rahmen eines Dialogs lösen“, so Peskow,
Während die Situation auf geopolitischer Ebene eskaliert, kommt Bewegung in die humanitäre Situation. Am Samstag gaben die Behörden von Bergkarabach (Arzach)bekannt, daß die Blockade russischer Hilfsgüter über die Agdam-Straße aufgehoben sei und daß gleichzeitig eine Vereinbarung über die Wiederherstellung des humanitären Transits über den Latschin-Korridor getroffen worden sei – der bis Dienstag aber noch geschlossen blieb.