Die hitzigste politische Diskussion in diesem Sommer kreiste um den Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger. Ein Land, dessen politische und mediale Elite eine wochenlange Debatte über das Verhalten eines Spitzenpolitikers in seiner Schulzeit führt, scheint keine ernsthaften Sorgen zu haben. Doch der Eindruck täuscht: Begleitet von einer brisanten Mischung aus Ignoranz, bewußtem Wegschauen und Lethargie hat sich die Migrationskrise immer weiter zugespitzt.
Bis Ende August registrierten die Behörden in Deutschland knapp 205.000 Asyl-Erstanträge. Gegenüber dem Vorjahr ist das eine Steigerung um 77 Prozent. Die Hauptnationalitäten der Zuwanderer sind Syrer (61.500 Erstanträge, 81 Prozent mehr als 2022), Afghanen (35.800, plus 81 Prozent) und Türken (28.700 Anträge, plus 209 Prozent). In den Zahlen sind die Kriegsflüchtlinge nicht enthalten. Das Bundesinnenministerium teilte auf Anfrage der Welt am Sonntag mit, daß seit Kriegsausbruch 1.339.943 Menschen aus der Ukraine in die Bundesrepublik eingereist seien, 1.084.046 von ihnen würden sich mit Stichtag 15. August noch im Land aufhalten.
Das Problem: Obwohl die Aufnahme- und Integrationskapazität in vielen Städten und Gemeinden längst erreicht beziehungsweise überschritten ist, ist ein Ende nicht absehbar. Im August wurden nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mit 27.738 Erstanträgen noch einmal 17 Prozent mehr Anträge als im Vormonat gestellt. Damit wurde die Marke von 200.000 bereits nach dem achten Monat des Jahres übersprungen, für das Gesamtjahr rechnen die Behörden mit 300.000 Asylanträgen – mindestens. Das Ausmaß wird bei einem Blick auf die Statistik deutlich: Eine stärkere Asylzuwanderung als in diesem Jahr gab es in der Geschichte der Bundesrepublik bislang nur in vier Jahren: während der Migrationskrise 2015/2016 sowie während der Jugoslawienkriege 1992/1993.
Leute ohne Bleibeperspektive nicht auf Kommunen verteilen
Mit einem Rückgang der Asylanträge in absehbarer Zeit rechnet in Berlin niemand. Nach wie vor gilt in der Ampel-Koalition die von Bundesinnenministerin Faeser (SPD) im Frühjahr vorgegebene Linie, nach der es keine Obergrenze für die Aufnahme von Asylbewerbern gebe. Wie auf dem Flüchtlingsgipfel im Bundeskanzleramt Anfang Mai wird zwischen Bund und Ländern lediglich über die Höhe der finanziellen Mittel zur Unterstützung der Kommunen bei Unterbringung und Integration der Einwanderer debattiert. Daß es bei dem für November terminierten nächsten Spitzentreffen anders laufen wird, ist nicht zu erwarten.
Dabei werden in den Ländern und vor allem in den unmittelbar betroffenen Kommunen die Hilferufe und die Verzweiflung immer größer. Tenor: Wir schaffen das nicht. „Die weiter ungebremste stete Zuwanderung ist immer schwerer beherrschbar“, sagte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, der Welt am Sonntag. Der Bund müsse die Zuwanderung dringlicher denn je steuern und ordnen: „Wir brauchen Taten. Unsere Kapazitäten zur Aufnahme und Integration Schutzsuchender sind mehr als ausgelastet. Der Anspruch, Geflüchtete angemessen aufnehmen und vor allem gut integrieren zu können, kann vor Ort nicht mehr erfüllt werden.“ Man verliere stetig „das Vertrauen der Bürger in den Staat.“ Seine Forderung: Die Bundesländer müßten sicherstellen, daß Menschen ohne Bleibeperspektive nicht auf die Kommunen verteilt werden.
Aus dem Bundesinnenministerium kommen bislang jedoch lediglich Pläne für eine beschleunigte Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern. So soll unter anderem in Paragraph 60a des Aufenthaltsgesetzes die Regelung gestrichen werden, nach der Menschen, die bereits länger als ein Jahr in Deutschland geduldet leben, vor einer Abschiebung erneut vorgewarnt werden müssen. Davon erhofft sich das Ministerium, daß weniger abgelehnte Asylbewerber untertauchen beziehungsweise mit Hilfe von Rechtsberatungen sich von Duldung zu Duldung hangeln, obwohl sie keine dauerhafte Bleibeperspektive haben. Doch angesichts der weiter wachsenden Zahl von Asylbewerbern wird eine solche Regelung kaum eine spürbare Entlastung bringen. Von diesen Plänen unabhängig, ist die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland im ersten Halbjahr um gut ein Viertel gestiegen. Von Januar bis Juni 2023 wurden 7.861 Personen abgeschoben, knapp 27 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Mitte des Jahres lebten insgesamt 279.098 ausreisepflichtige Personen in Deutschland. Davon besaßen 224.768 eine Duldung.
Kaum mehr als symbolische Bedeutung im Kampf gegen den weiteren Zuzug von Asylbewerbern hat die nun erfolgte Einstufung von Georgien und Moldau als sogenannte sichere Herkunftsstaaten. Durch diesen Status ist es den deutschen Behörden möglich, einen Asylantrag von Bürgern dieser Staaten einfacher als „offensichtlich unbegründet“ abzulehnen. Doch die Zahl der Asylbewerber aus diesen Ländern ist zu gering, um eine tatsächliche Entlastung zu bewirken. Gleiches gilt für die Maghreb-Staaten, die nach dem Willen der FDP, aber auch der Union und der AfD ebenfalls als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden sollen. Die Grünen lehnen dies indes weiter kategorisch ab. Sie halten das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten grundsätzlich für falsch. „Wir glauben nicht, daß es irgendwelche Probleme löst. Gleichzeitig gibt es so etwas wie einen Freifahrtschein für Staaten, die uns dann erklären, daß ihre Menschenrechtslage kein Problem sei“, verdeutlichte Grünen-Parteichef Omid Nouripour.
Doch solange die übergroße Zahl der Asylbewerber aus Syrien, Afghanistan und dem Irak stammen, ist die Diskussion um eine Ausweitung der Liste eh nur Kosmetik. Denn jedem in Berlin ist klar: Diese drei Staaten werden die Kriterien für eine solche Einstufung auf absehbare Zeit mit Sicherheit nicht erfüllen. Für die deutschen Kommunen sind das keine guten Aussichten.