Alice Weidel wird ihre Worte im Sommerinterview der ARD mit Bedacht gewählt haben. Gemeint sind die beiden Sätze, die erklärten, warum die AfD-Chefin auf die Teilnahme an der Veranstaltung zum „Tag des Sieges“ in der russischen Botschaft verzichtet hat. Sie sei zu dem Entschluß gekommen, daß es nicht angehe, „die Niederlage des eigenen Landes … mit einer ehemaligen Besatzungsmacht“ zu feiern.
Die Reaktionen fielen wie erwartbar aus: eine „ungeheuerliche Aussage“ (Christoph Schwennicke) einer Unbelehrbaren, die Revisionismus treibe, Haß und Hetze säe und wenn nicht die Machtergreifung des neuen Faschismus vorbereite, dann doch den „geschichtspolitischen Grundkonsens“ in Frage stelle, der besage, daß der 8. Mai ein Tag der „Befreiung“, nicht der „Niederlage“ war. Den etwas klügeren Kommentatoren war immerhin bewußt, daß dieser „geschichtspolitische Grundkonsens“ weder Verfassungsrang besitzt, noch seit je gegolten hat.
Die Deutschen fühlten sich 1945 bestenfalls erlöst von einer Tyrannis, in jedem Fall aber besiegt.
Bis in die 1980er Jahre hätte an der Formulierung Alice Weidels kaum jemand Anstoß genommen. Die Erlebnisgeneration wußte um zahllose Gewaltakte bei Kriegsende, die nie geahndet wurden, um Gesetzlosigkeit, Plünderungen, Gefangenschaft der Soldaten, zum Teil unter katastrophalen Bedingungen, Festnahme und Internierung von Zivilisten, Vergewaltigungen in großer Zahl.
Bei aller Erleichterung, die die Deutschen über das Ende des NS-Regimes empfanden, wußten sie doch sehr genau, daß hier ein „Zusammenbruch“ (Kurt Schumacher) und sicher eine „Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) stattgefunden hatte, die ursächlich mit der militärischen Niederlage der Wehrmacht zusammenhing. Das änderte sich erst im Gefolge jener Kulturkämpfe, die dazu führten, daß 1985 sogar der von der Union gestellte Bundespräsident Richard von Weizsäcker aus Anlaß des 40. Jahrestags der Kapitulation vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“ sprach.
Tatsächlich fühlten sich die Deutschen – abgesehen von den Gegnern und Opfern des NS-Regimes – nicht befreit, bestenfalls „erlöst“ (Theodor Heuss) von einer Tyrannis und permanenter Todesgefahr, in jedem Fall aber besiegt. Daß ihre Nachfahren die relative Uneindeutigkeit des damaligen Geschehens leugnen und es im Sinne einer „Befreiung“ zu vereindeutigen suchen, hat gelegentlich mit Dummheit, meistens mit Verdrängung, und immer mit dem Fehlen jedes Empfindens nationaler Würde zu tun. Insofern muß man dankbar sein, wenn jemand daran erinnert, daß es angesichts der „Niederlage des eigenen Landes“ nichts zu feiern gibt.