© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/23 / 08. September 2023

Der Flaneur
Im Zug nach Nirgendwo
Paul Leonhard

Leer und verschlossen“ steht in roter Schrift über der Tür, wo eigentlich „Wiesbaden Hbf“ stehen sollte. Drinnen bin ich offensichtlich der einzige Fahrgast. Die anderen wollen sich noch von Familienangehörigen und Freunden verabschieden oder haben einfach keine Lust, sich 20 Minuten vor der fahrplanmäßigen Abfahrt schon in die Enge des ICE zu begeben – nehme ich an.

Aber die nun realisierte rote Leuchtschrift veranlaßt mich, wieder aussteigen zu wollen. Geht aber nicht. Die grünen Dioden, die den Öffnungsknopf unterlegen, sind erloschen. Ich bin eingesperrt, in einem ICE, der bestimmt gleich auf ein Abstellgleis rollt, damit der planmäßige Zug einfahren kann. Leichte Panik kommt auf.

Plötzlich funktioniert das Display wieder und der Zug rollt an, aber in die falsche Richtung.

Ich laufe durch leere Abteile in Richtung Zugspitze und stelle im vordersten Wagen erleichtert fest: „Geschlossen“ stimmt zwar, nicht aber „leer“. Denn die Erste Klasse ist gut gefüllt. Unter den dort Sitzenden verbreite ich leichte Unruhe, als ich frage, ob sie sich sicher sind, im richtigen Zug zu sitzen.

Der Zugführer im Cockpit reagiert auf eine höfliche Nachfrage unwirsch. Ob ich nicht sehe, daß er beschäftigt sei? Jetzt sehe ich es auch: Die Software spinnt. Hektisch tippt der Mann mit dicken Fingern auf dem Display herum, das nur eine Antwort kennt: Error. 

Letztlich schafft er es, daß sich die Türen wieder öffnen. Und jetzt drängen plötzlich Menschen hastig herein. Kurz darauf fährt der ICE tatsächlich ab – in die falsche Richtung. Eine Schockwelle breitet sich unter den Reisenden auf. Geht es nicht Richtung Westen, sondern nach Prag? Aber da quietschen schon die Bremsen.

Plötzlich leuchtet es über den Sitzen rot auf. Das Reservierungssystem erinnert sich an seine Aufgaben, die Reisenden erinnern sich an ihre Platzkarten. Während die Platzkarteninhaber ihr Recht einklagen und die anderen ihre Koffer und Taschen aus den Ablagen holen, rollt der Zug endlich westwärts.

Überall wird Verpflegung ausgepackt. Die Älteren holen Stullenpakete hervor, die Jüngeren beißen in To-go-Pizzas. Der ICE rast mit 180 Stundenkilometern durch die Landschaft. Ein Reiseziel hat er noch immer nicht. Wo es stehen sollte, ist noch immer „leer und verschlossen“ zu lesen.