Alte, gern verdrängte Hypotheken kehren immer wieder. Der angeblich neue Kurs der Zeitenwende offenbart hintergründig ein Übel, das von konservativen Interpreten des Zeitgeschehens seit weit über einem halben Jahrhundert diskutiert wird: Von Caspar von Schrenk-Notzings „Charakterwäsche“ üb er Arnold Gehlens Schrift „Moral und Hypermoral“ bis zu Leon Wilhelm Plöcks’ „Volksverletzung“ werden die Auswirkungen der psychopolitisch zu erklärenden Reaktionen auf das NS-Trauma beschrieben: Zuerst von außen oktroyiert und von linken Intellektuellen in der Frühzeit der Bundesrepublik beworben, wird die „Psychologie der Niederlage“ (Thorsten Hinz) relativ schnell kollektiv internalisiert. Moral fungiert als Antidot gegen den langen Schatten der als schuldhaft empfundenen Vergangenheit. Sogar zwei prominente linke Autoren stellten diesen Zusammenhang unlängst heraus: Richard D. Precht und Harald Welzer sehen die Kehre des politmedialen Establishments im Frühjahr 2022 in einem „verblüffenden Schuldstolz der politischen Klasse“ begründet, der sogar vor Militarisierung in Wort und Tat nicht zurückschreckt.
In der Tat kann man in den Reaktionen auf den kriegerischen Angriff Rußlands auf die Ukraine ein weiteres Kapitel des alten Dramas der deutschen Volksseele erkennen, allerdings mit neuen Inhalten. Was über Jahrzehnte hinweg als praktisch nicht durchsetzbar galt, die bessere Ausstattung der Bundeswehr und die Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete, ist konsensfähig, wenn andere Nationen davon profitieren. Sie werden einfach zum Mitglied des „Wertewestens“ erklärt. Ganz offen setzen sich maßgebliche Entscheidungen über die Interessen des eigenen Landes hinweg, obwohl bekannt ist, daß nichts weniger als die schwerste wirtschaftliche Krise seit einem Vierteljahrhundert die Konsequenz eines solchen Vorgehens ist.
Lange gültige Grundsätze der Politik werden über Bord geworfen
Der Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders trat bereits mit einer Reihe vielbeachteter Bücher, darunter „Wer den Wind sät“ und „Die den Sturm ernten“, sowie mit Auftritten in Talkshows als Autor hervor, der aus seiner Ablehnung westlichen Hegemonialstrebens keinen Hehl macht. Ohne Polemik, aber mit klarem Urteil arbeitet er anhand vieler Beispiele heraus, wie im Namen von Demokratie und Menschenrechten eine Fülle negativer Folgen für die eigene Bevölkerung in Kauf genommen wird. Daß Deutschland zu den Hauptverlierern der aktuellen Lage gehört, gilt mittlerweile als Binsenweisheit. Bereits länger zurückliegende Weichenstellungen, etwa in der Energiepolitik, treten im Lichte der Sanktionspolitik in ihren negativen Aspekten um so drastischer hervor. Zunehmend gehen industrielle Kerne verloren. Vielleicht als gefährlichster Gesichtspunkt der aktuellen Zuspitzung darf die Lagerung von US-Kernwaffen auf deutschem Boden gelten. Ein etwaiger Einsatz obliegt alleine dem US-Präsidenten. Ein Vetorecht der Deutschen, deren Land im schlimmsten Fall zum Schlachtfeld mutierte, existiert nicht.
Es entspricht einer zwingend binären Logik, daß denen, die sich als Gute wähnen, Böse gegenüberstehen müssen. Das alleinige Übel wird von der russischen Seite personifiziert. Einem furorartig anmutenden Ethizismus ist es geschuldet, daß lange gültige Grundsätze der Politik über Bord geworfen werden. Dazu zählt nicht zuletzt die Quintessenz echter Entspannungspolitik, die lautet: Man muß sich in die andere Seite hineinversetzen und Kontakte auf verschiedenen Ebenen pflegen. Der Mangel an Empathie ist hierzulande auffallend: Ein etwaiger Waffenstillstands- und Friedensvertrag gilt vielen sogar als Gefahr für das künftige Zusammenleben in Europa.
Anders als viele Vertreter der „Stand With Ukraine“-Front blendet Lüders, der das russische Vorgehen strikt mißbilligt, die lange Vorgeschichte des derzeitigen Krieges nicht aus. Damit stellt er sich in eine längere Reihe von namhaften Publizisten und Wissenschaftlern, von denen nur John Mearsheimer, Benjamin Abelow, und Wolfgang Bittner anzuführen sind.
Der derzeitige Konfrontationskurs mit China, wenngleich zuletzt etwas abgemildert, scheint die nächste Stufe der Realitätsverweigerung zu charakterisieren. Das ungeschickte Agieren deutscher Chefdiplomaten könnte eine Fortsetzung der ökonomischen Talfahrt Deutschlands zur Folge haben.
Aus dem Windschatten einer transatlantischen Fixierung treten
In einem lesenswerten Ausblick plädiert Lüders für eine Wahrnehmung des europäischen Eigeninteresses. Er möchte Anstöße geben, aus dem Windschatten einer einseitigen transatlantischen Fixierung herauszutreten. Die vielzitierte westliche Wertegemeinschaft stellt aus seiner Sicht ein großes Konjunkturprogramm für die USA dar. Der Wert von Moral, so die Schlußfolgerung, werde gemindert, wenn daraus ein wirtschaftlicher Offenbarungseid folgt. Zutreffender kann man es kaum ausdrücken.
Michael Lüders: Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. Wilhelm Goldmann Verlag, München 2023, broschiert, 256 Seiten, 18 Euro