Der Bucheinband zeigt den Aufruf für ein Preisausschreiben, das unter der Überschrift „Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933“ in der Emigrantenpresse an der Harvard-Universität erschienen ist. Bezweckt wurde mit der Textsammlung eine „rein wissenschaftliche Materialsammlung, die für eine Untersuchung der gesellschaftlichen und seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk verwendet werden soll“. Wann der zu besprechende Beitrag eingereicht wurde, erfährt der Leser nicht. Als Termin war der 1. April 1940 vorgegeben, den der Autor Heinrich Lichtenstein eingehalten hat.
Am 15. Dezember 1889 in Oberwesel geboren, wirkte der Autor ab 1909 an verschiedenen Schulen als Lehrer, bis er dann kurz nach Hitlers Machtantritt entlassen wird, „weil er nicht die Gewähr eines rückhaltlosen Eintretens für den nationalen Staat“ biete. Rechtzeitig gelingt ihm mit seiner Frau die Auswanderung, die sie letztlich in die USA führt. Im Frühjahr 1961 setzt der US-Emigrant, jetzt Henry Lichtenstein, seinem Leben im Hudson River ein Ende. Die Erlebnisse hatten ihn schwermütig gemacht.
Als Schüler war er voll integriert. „Ich war im ersten Jahr unter etwa 80 Schülern der einzige Jude, aber niemals ist mir in den beiden Jahren zu Wöllstein das sonst in Deutschland nie ausgestorbene Schimpfwort ‘Jude’ zugerufen oder irgendeine Zurückweisung zugemutet worden.“ Der Junglehrer fühlt sich im hessischen Grebenau, wo der Anteil der Juden recht hoch ist, gut aufgehoben: „Zwischen dem jüdischen Bevölkerungsanteil und dem nichtjüdischen herrschte das denkbar beste Verhältnis. (...) Daß auch unter den Schülern der beiden Bekenntnisse das beste Einvernehmen herrscht, war eine Folge der Haltung der Eltern.“
Die Ermordung Rathenaus ließ viele Judenfeinde triumphieren, so wie die tödlichen Schüsse auf Kurt Eisner zwei Jahre früher. Aber die große Trauer der Bevölkerung bei beiden Bestattungen demonstrierte die offenkundige Solidarität mit den Mordopfern. Unter der Überschrift „Die Feinde der Republik greifen an“ schreibt Lichtenstein, wie er seiner politischen Heimat dienen wollte. Jedermann wußte, daß ich Demokrat war, und ich kann nur sagen, daß ich daraus nie einen Nachteil gehabt habe“ – bis gegen Ende der Weimarer Zeit, als er nach Offenbach versetzt wurde und ein Haus bezog, in dem ein nationalsozialistischer Schriftsteller eine Wohnung gemietet hatte. „Sowohl er, wie auch seine fanatische Frau, haben uns nie mit direkten oder indirekten Angriffen bedacht. (...) Mit allen übrigen acht Familien lebten wir in bestem nachbarlichen, teilweise sogar freundschaftlichen Verhältnis, das bis auf einen Fall den 30. Januar 1933 überdauerte.“
Hitlers Machtergreifung führte „im Namen des Reiches“ zum Judenboykott, zur Zwangsbeurlaubung jüdischer Beamter, zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben, zu den „Nürnberger Gesetzen“, zum Ausschluß der Juden aus der „Volksgemeinschaft“, zur Reichspogromnacht. Auch Lichtenstein wurde in diesem Zusammenhang verhaftet und wochenlang im KZ Buchenwald unter höllischen Gegebenheiten festgehalten. Die Flucht aus der Heimat erlöste ihn und seine Frau aus Angst, Schikane und Diskriminierung.
Immer wieder begegnet der Leser Figuren, die den Abscheu aller halbwegs anständig Denkenden erregen müssen, aber auch Menschen, die alles riskieren und so untergehen, ohne eine Revolte der Sympathisanten wie der Opfer auszulösen, die vor allem hofften, „wieder einmal lebendig hier herauszukommen“. Lichtensteins Erinnerungen sind keine liebedienerische Hommage an das Volk, dessen Führung den Autor brutal verstoßen hat. Wie hätte er mit derlei Anfang 1940 in den USA punkten können? Aber das deutsche Volk war auch nicht von „eliminatorischem Antisemitismus“ beseelt, wie Daniel Goldhagen 1996 in seinem Werk „Hitlers willige Vollstrecker“ glaubt nachgewiesen zu haben. Lichtenstein ringt um eine exakte, punktgenaue Darstellung des selbst Erlebten und der Menschen, mit denen er es zu tun hatte.
Walter Karbach (Hrsg.): Heinrich F. Lichtenstein. Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933. Das Preisausschreiben der Harvard Universität. Verlag Josef Karbach Nachf., Trier 2023, broschiert, 136 Seiten, 25 Euro