© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/23 / 08. September 2023

Mit dem Anspruch auf Qualität
Ausstellung: Die Alte Nationalgalerie in Berlin zeigt Parallelen und Unterschiede der um 1900 entstandenen künstlerischen Secessionsbewegungen in München, Wien und Berlin
Regina Bärthel

Sie prangt auf T-Shirts, Tassen und Taschen und gehört zu den meistreproduzierten Kunstwerken der Welt: Neben anderen seiner Gemälde und Grafiken machte die „Judith“ den Maler Gustav Klimt gleichsam zu einem Synonym für die Kunst der Wiener Secession. Jetzt fungiert sie als nicht unbedingt originelles, doch marketingstrategisch kluges Aushängeschild der aktuellen Ausstellung der Alten Nationalgalerie in Berlin: „Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann“ gibt einen Einblick in die avantgardistischen Bewegungen in München, Wien und Berlin, fraglos mit die einflußreichsten Kunstbewegungen des deutschsprachigen Raums. 

Statt der männermordenden (beziehungsweise Männer morden lassenden) Judith hatten sich die Secessionisten allerdings Pallas Athene als Leitfigur auserkoren: Franz von Stuck machte die Göttin der Weisheit, aber auch der Kunst und des Kampfes zum Markenzeichen der Münchner Secession, was fünf Jahre später von Klimt in Wien aufgenommen wurde. Beider goldgrundige Darstellungen der kämpferischen Athene bilden nun gemeinsam mit Klimts „Judith“ ein emblematisches Dreigestirn im Zentrum der Ausstellung, umgeben von einigen Perlen des Kunstschaffens der namhaften Secessionsbegründer Klimt, Stuck und nicht zuletzt Max Liebermann. Eine Inszenierung übrigens, die ganz den damals eingeführten und bis heute gültigen Prinzipien einer modernen Kunstpräsentation folgt.

Eine neue Elite sollte dem Publikum bekannt gemacht werden

„Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“: Das in Stein gehauene Motto der Wiener Secession verweist auf die Anliegen der neuen Bewegungen. Befreien wollte man sich vom staatlich sanktionierten Ausbildungssystem der Akademien sowie den als verkrustet und altbacken empfundenen Künstlergenossenschaften. Entkommen wollte man auch der gängigen Ausstellungspraxis der jährlichen Kunstausstellungen, bei denen eine Flut von nicht selten 2.000 Werken meist lokaler Künstler die Wände füllte und gemeinsam mit drapierten Stoffen und dem einen oder anderen Pflanzenkübel um die Aufmerksamkeit des Betrachters rang. Die Secessionisten hingegen setzten auf klare Strukturen, um den ausgestellten Werken, die nun nebeneinander und auf Augenhöhe des Publikums gehängt wurden, Raum zur Entfaltung zu geben. 

Raum gegeben werden sollte vor allem aber neuen künstlerischen Strömungen wie Symbolismus, Jugendstil und Impressionismus, deren Vertreter nicht selten von den Juroren der großen Kunstschauen abgelehnt wurden. Ein deutliches Signal setzte der sogenannte „Fall Munch“: Eine Ausstellung mit den subjektiv-expressiven Werken des norwegischen Malers Edvard Munch im Verein Berliner Künstler geriet 1892 zum Skandal. Nach einer – immerhin demokratischen – Abstimmung unter den Vereinsmitgliedern wurde die Ausstellung nach wenigen Tagen wieder geschlossen. Im selben Jahr gründete sich die Münchner Secession, übrigens mit tatkräftiger Unterstützung des Berliners Max Liebermann. 

Nun fanden diese neuen Strömungen, vertreten von Künstlern aus ganz Europa, ihren Ort in den Ausstellungen der Secessionen, die in kompakten, teils thematischen Präsentationen über das Jahr verteilt zu sehen waren. Auch hier befand eine Jury über die Ausstellungswürdigkeit der Werke, allerdings unter weit strengeren Gesichtspunkten. Denn eine neue Elite – damals noch ein positiv besetzter Begriff – sollte dem Publikum bekannt gemacht werden. Nicht unbedingt, aber vorwiegend waren dies Vertreter der aktuellen Stilrichtungen. Wichtige Ziele der Secessionen waren Individualismus, Internationalität und Vernetzung über lokale und internationale Grenzen hinweg.

Dieser elitäre Anspruch auf künstlerische Qualität hatte durchaus auch ökonomische Gründe: Die Ausstellungen der Secessionen waren Leistungsschauen und wurden alsbald zu regelrechten Kunstmessen. Tatsächlich entwickelten sie sich durch Gebrauchsgrafik wie Plakate zu regelrechten Marken mit hohem Wiedererkennungseffekt – ein interessanter Bereich der aktuellen Ausstellung. Unterstützt wurden sie durch eigene oder ihnen nahestehende Kunstmagazine. 

Den so entstandenen wirtschaftlichen Erfolg der neuen Bewegungen beweisen nicht zuletzt die in allen drei Städten entstandenen Ausstellungsgebäude. In Berlin – die Berliner Secession gründete sich im Januar 1898 – wurde im März eigens für den Bau eines Ausstellungsraumes eine Aktiengesellschaft ins Leben gerufen. Bereits am 20. Mai eröffnete die erste Ausstellung in der Kantstraße. Undenkbar im heutigen Berlin.

Apropos elitärer Anspruch: Obgleich zu den Mitgliedern der althergebrachten Kunstgenossenschaften auch Künstlerinnen zählten, wurde ihnen dies in den Secessionen verwehrt. Mit Ausnahme Berlins: Hier waren Malerinnen wie Dora Hitz oder Ernestina Schultze-Naumburg von Beginn an als ordentliche Mitglieder eingetragen, später kamen Käthe Kollwitz und Charlotte Berend-Corinth hinzu. Allerdings lag der Anteil der weiblichen Mitglieder konstant bei nur etwa sechs Prozent. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß Frauen der Zugang zu den Akademien weitestgehend verwehrt und die Aktzeichnung konsequent verboten wurde. Die Mutigen taten es dennoch: Ein Selbstportrait der Malerin Anna Hillermann kommentiert ihre Arbeit mit selbstbewußtem Blick und einem weiblichen Aktmodell im Hintergrund. 

Konkurrenzdenken führte zu weiteren Abspaltungen

Doch – zum Glück – degradiert die Ausstellung Künstlerinnen nicht zum Sonderthema. Vielmehr finden sich ihre Werke integriert in 13 verschiedenen Themenfeldern, die unter anderem das für die Secessionen programmatische „Frühlingserwachen“ und „Begegnung mit der Natur“ ebenso behandeln wie die „Illustre Gesellschaft“ und „Von Arbeit und Alltag“. Beim Betrachten der rund 200 Gemälde, Skulpturen und Grafiken von 80 Künstlern entstehen freudige Wiederbegegnungen unter anderem mit der Bronzeplastik „Tänzerin“ von Georg Kolbe, dem Skandalbild „Salomé“ von Lovis Corinth oder Franz von Stucks einstigem Publikumsmagneten „Die Sünde“. Auch dessen Gemälde „Tilla Durieux als Circe“ (der legendären Schauspielerin ist aktuell eine Ausstellung im Berliner Georg-Kolbe-Museum gewidmet) ist hier vertreten. Zu den Neuentdeckungen gehören womöglich die großformatige „Kirschenernte“ von Dora Hitz, in jedem Fall aber die „Dame in Weiß“ von Ernestina Schultze-Naumburg, die erst kürzlich von der Nationalgalerie angekauft wurde. 

Die mit etwa 60 Gemälden und Zeichnungen sehr hohe Präsenz von Gustav Klimt mag der Kooperation mit dem Wien-Museum geschuldet sein, doch selbstredend gehört er zu den bekanntesten Größen des Secessionismus. Eine eigens in die Ausstellungsräume eingebaute Box versammelt zahlreiche seiner Handzeichnungen, darunter auch Skizzen zu verlorenen Werken. Nicht nur aus Lokalpatriotismus mögen sich einige Besucher mehr Gemälde von Max Liebermann, dem großen Impressionisten und einflußreichen Mitbegründer der Berliner Secession, wünschen – doch nehmen wir dies als Anreiz für einen baldigen Besuch der Liebermann-Villa am Wannsee.

Doch „alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht“. Die große Zeit der Secessionen von München, Wien und Berlin endete bereits um 1910. Zum Teil wurden sie Opfer ebenjener Dynamik, die sie angestoßen hatten: Es entstanden zahlreiche weitere Abspaltungen – um nicht zu sagen: Zersplitterungen – mit immer neuen Ausstellungsvereinigungen und immer spezialisierteren Berufsverbänden. Grund hierfür war nicht zuletzt ein künstlerisches wie monetäres Konkurrenzdenken, das sich übrigens gerade auch an der Beteiligung ausländischer, sogenannter korrespondierender Mitglieder entzündete. Zudem war inzwischen eine neue Generation herangewachsen, die wiederum die Secessionsgründer als zu traditionell empfanden – so ist es eben mit rebellischen Innovationen; auch deren Protagonisten werden bald von Jüngeren mit noch neueren Gedanken verdrängt. In Berlin oblag dies dem expressionistischen Kreis um Max Beckmann, der 1910 – nach zahlreichen vorangegangenen Streitigkeiten – die „Neue Secession“ ins Leben rief. All diesen kleinen und kleinsten Abspaltungen fehlte jedoch die Strahlkraft der Originale.

Die Ausstellung „Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann“ ist bis zum 22. Oktober 2023 in der Alten Nationalgalerie Berlin, Bodestraße 1-3, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Eintritt: 12 Euro (ermäßigt 6 Euro).

Der Ausstellungskatalog mit 328 Seiten und 265 Farbabbildungen kostet 45 Euro.

 www.smb.museum