© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/23 / 08. September 2023

Dorn im Auge
Christian Dorn

Als ich abends den Fischmarkt betrete, wo das 25jährige Jubiläum der Wiedererrichtung des Halberstädter Stadtzentrums gefeiert wird, erklingen – passend zum bellizistischen Intermezzo im Osten – die letzten Takte des NDW-Hits „Besuchen Sie Europa (so lange es noch steht)“ von Geier Sturzflug, deren Formation an diesem Abend zu einer Rumpfcombo zusammengeschrumpft ist, zu einem Duo von Musikern, die nicht einmal Gründungsmitglieder sind. So fremd mir auch das Publikum erscheint, da ich – mit einer reizenden weiblichen Ausnahme, die ich nicht erkannt hatte und deren akkurat aufgerichteter Atombusen sich mir plötzlich entgegenstreckt – keinen einzigen Menschen wiedererkenne, so unwirklich ist auch dieser Song aus dem Jahr 1983, dessen Titel den damaligen Slogan eines US-amerikanischen Reiseanbieters zitiert. Inzwischen ist er genauso alt wie die DDR, die im 40. Jahr ihres Bestehens zusammenbrach. Diese Zeitspanne kommt mir – in diesem Vergleich – völlig irreal vor. 

Als ich den Song „Schön, schön, schön sind wir sowieso“ höre, denke ich automatisch an mich. 

Bezeichnenderweise liegt die Bühne zu Füßen der Martinikirche, von der im Herbst 1989 die Revolution ausging, und die am 4. Oktober so voll war wie vermutlich nie zuvor in ihrer Geschichte. Damals hatte ich mich auf die Treppen zur Empore gekauert, um dem magischen Moment des sich selbst ermächtigenden Demos beizuwohnen, der nur im Schutzraum der Kirche möglich gewesen war – einer Institution, die plötzlich die Urgewalt der Geschichte auf ihrer Seite hatte gegenüber einem auf Ewigkeit angelegten säkularen Heilshorizont, der sich nach bloß vier Jahrzehnten verflüchtigte, aber eine Betonwüste im Herzen der Stadt hinterließ, als wäre der Krieg 1945 gerade erst zu Ende gewesen.

Nie hätte ich mir da vorstellen können, daß ich hier einst – wie an diesem Abend – NDW-Star Markus auf den Parkplatz hinter die Kirche lotsen würde. Es ist natürlich kein Maserati – gleichwohl geht das Publikum erst jetzt richtig mit. Als ich den Song „Schön, schön, schön sind wir sowieso“ höre, denke ich automatisch an mich, Autosuggestion soll ja helfen. Indes scheint die Zeile „Deutschland, Deutschland, spürst du mich, heut nacht komm ich über dich“ irgendwie aus der Zeit gefallen. Jedenfalls ist es eine unglaubliche Ironie oder vielmehr Groteske der Geschichte: Der abgezäunte Zugangsbereich zum Stadtfest wird von jungen „Südländern“ in gelben Warnwesten kontrolliert – also womöglich jenen, die ohne jede Kontrolle nach Deutschland eingereist sind. Noch absurder wird diese Wirklichkeit durch den Umstand der Unterkunft, wohnen diese „Fachkräfte“ doch in den ehemaligen Kasernen der DDR-Grenztruppen, so demnächst auch in Stendal. Die Zeiten, da ein „illegaler Grenzdurchbruch“ noch tödlich war, haben sich geradezu in ihr Gegenteil verkehrt, wie die beckmessernden „Einzelfälle“ demonstrieren – eine „Demonstranz“ angesichts der jüngsten publizistischen Dekrete der Politik- und Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, der ehemaligen politischen SPD-Beamtin Sawsan Chebli oder des Schriftstellers Behzad Karim Khani.