© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/23 / 08. September 2023

„Als ich ein Kind und glücklich war“
Literatur: Volker Weidermanns Büchlein über Thomas Manns Liebe zum Meer reicht für höchstens zwei Stunden Strandlektüre
Dirk Glaser

Biographie und Werk liefern reichlich Material, um über Thomas Manns Verhältnis zum Meer zu schreiben. Löste sich dieser Autor, 1875 in einer Hafen- und Hansestadt geboren, doch nie von der ihn mental porentief prägenden „geistigen Lebensform“ Lübecks und ihres Naturrahmens am baltischen Meer. Sie bestimmte seine Kindheitserinnerungen an die alljährliche, im Ostseebad Travemünde genossene Sommerfrische, deren literarische Gestaltung ihren Anteil daran hatte, mit den „Buddenbrooks“ (1901) den „Anspruch des deutschen Romans auf Weltfähigkeit“ erheben zu dürfen.

Sie geht ein in „Tonio Kröger“ (1903) und „Der Tod in Venedig“ (1912), grandiosen „Meeresnovellen“. Und noch „Mario und der Zauberer“, seine 1929 im ostpreußischen, heute im Kaliningrader Gebiet als Swetlogorsk firmierenden Seebad Rauschen („Gibt es übrigens für eine Sommerfrische einen verführerischen Namen als Rauschen?“) entstandene Warnung vor dem Rückfall in die politische Barbarei, spielt in der schwülen Atmosphäre eines fiktiven Badeorts an der tyrrhenischen Küste, im faschistischen Italien. Der Wellenrhythmus des Meeres, dessen „musikalische Transzendenz“, ist darüber hinaus jedoch in vielen, wie der Nobelpreisträger gelegentlich behauptete, sogar in allen seinen Büchern als ihr „Urgrund“ gegenwärtig. 

So auch im „Zauberberg“ (1924), obwohl dessen Schauplatz, ein Sanatorium im Schweizer Hochgebirge, denkbar weit von Nord- und Ostsee entfernt ist. Das hinderte Literaturwissenschaftler freilich nicht daran, diesen Bildungsroman des prototypischen „Aussteigers“ Hans Castorp wegen der „symbolischen Identität von Meer und Schnee“ (Helmut Jendreiek, 1977) schon früh jener Prosa zuzuordnen, die Thomas Manns Herzensthema, Leiden und Größe des deutschen Bürgertums, gern in der Nachbarschaft von Elementarräumen inszeniert.

Diese faszinierten den Großschriftsteller nicht nur als Künstler; allerdings in ungleichem Maße. Vorrang vorm Gebirge hatten die von Familie Mann regelmäßig aufgesuchten Badeorte an Nord- und Ostsee, wo sie überdies 1930 mit einem Sommerhaus in Nidden auf der Kurischen Nehrung ein festes Saison-Quartier bezog. Das ging zwar 1933 mit der Emigration verloren, wurde 1942 aber im kalifornischen Exil in einer Luxusversion als Bauhaus-Villa nicht zufällig nahe der Pazifikküste ersetzt. Wie ein absichtslos komponiertes Finale zu Thomas Manns Meeresleidenschaft wirkt schließlich sein Tod in einer Züricher Klinik im August 1955 – kurz nach drei behaglichen, an der niederländischen Nordseeküste, in Noordwijk aan Zee, verbrachten Wochen.

Genug Stoff also für ein Buch über Thomas Mann und das Meer, die „Liebe seines Lebens“. Systematisch bearbeitet wurde das Thema selbst in der auf Regalkilometern sich erstreckenden Thomas-Mann-Forschung bisher nicht. Der langjährige FAS- und Spiegel-Redakteur Volker Weidermann, seit 2021 Feuilletonchef des Hamburger Wochenblatts Die Zeit, stößt darum – abgesehen von einer 1971 von Anke Schönefeld, der Mutter des ihm befreundeten Spiegel-Journalisten Philipp Oehmke, publizierten Studie zur „Symbolik von Meer und Hochgebirge im frühen und mittleren Werk Thomas Manns“ – offenbar auf Neuland vor. Ausgerechnet diese Arbeit ist im elektronischen Katalog der Deutschen Nationalbibliothek nicht nachzuweisen und somit über den Fernleihverkehr nicht zu beschaffen. Auch das Zentralverzeichnis Antiquarischer Bücher meldet Fehlanzeige. So ist derzeit nicht zu überprüfen, wieviel der Autor, der, vermittelt durch Freund Oehmke, wohl exklusiven Zugriff auf dieses Rarissimum gehabt hat, ihm verdankt. 

Grund zum Mißtrauen besteht bei dieser auf Biographien deutscher Exilschriftsteller wie Stefan Zweig, Joseph Roth und Anna Seghers abonnierten flinken Feder durchaus. Denn nicht einmal im milchigen Licht der Mehrheitsoptik der Rezensenten von FAZ, Süddeutscher Zeitung & Co. erscheint Weidermanns Belletristik als rundum seriös. Zuviel bloße Stimmungsbeschwörung, gar zu viele seichte Allgemeinplätze, zu uferloses, die Grenzen zwischen Dokumentation und Interpretation verwischendes „Collagieren“ von Zitaten. Als Stilist übelsten „Kitsch nicht scheuend“ (Hannah Bethke, FAZ), mit Denkfaulheit verwechselbare, rudimentär ausgebildete Urteilskraft sowie dürftige, bunte Mischungen von Fakten und Fiktionen begünstigende Zeitgeschichtskenntnis. Im Falle seiner Darstellung der Münchener Räterepublik von 1918/19 („Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen“, 2017) wandelt er ausweislich der FAZ-Besprechung von Andreas Platthaus sogar am Rande des Plagiats, weil er Passagen aus den Notizen eines Zeitzeugen, des bayerischen Balzac Oskar Maria Graf, übernehme, ohne dies kenntlich zu machen.

Als Mittfünfziger mit altersgemäßer Charakterzuspitzung ist Weidermann natürlich nicht mehr fähig, sich solche Unarten abzugewöhnen. Von ihnen kündet sein schlankes Büchlein über den „Mann vom Meer“ darum einmal mehr. Gleich in den ersten Kapiteln, die Thomas Manns Meerespassion per „Einfühlung“ in die Empfindungen von zwei sechsjährigen Mädchen, der 1851 südlich von Rio de Janeiro, an der Atlantikbucht von Paraty, geborenen Maria Luiza da Silva, seiner Mutter, und seiner Lieblingstochter Elisabeth beleuchten wollen, brennt Weidermann mit einem Feuerwerk kindischer Diminutive ab, was er so an sprachlichem Kitsch auf der Pfanne hat. Kaum ein Satz ohne Hemdchen, Kittelchen und Kleidchen, Fünkchen, Glühwürmchen und Orangenbäumchen, ohne generös eingestreute, plumpe Vertraulichkeit suggerierende Kosenamen.

Den in bewährter Manier zitatenfroh verwursteten Stoff für diese süßlichen Imaginationen schöpft der Feuilletonist aus Erinnerungen Julia Manns, deren von Dagmar von Gersdorff rekonstruierter Biographie und Kerstin Holzers Lebensporträt von Elisabeth Mann Borghese. Einen Erkenntnisgewinn bringt dieser immerhin originelle Einleitungsversuch nicht, für den Weidermann sich, frei von Flugscham, sinnlose Lokalrecherchen in Paraty gönnte.

Denn nicht mütterliches Erbe, an ihren Sohn etwa überlieferte Bilder von ihrem tropischen „Urstrand“, erzeugen dessen Sympathie für die elementare Monotonie des Meeres, sondern das eigene vegetative Dasein in Travemünde, „als ich ein Kind und glücklich war“, die der „Tagesflüchtling und Dämmerfreund“ in der Figur des konstitutionellen Lebensverweigerers Hanno Buddenbrook verarbeitet. Meer und Musik gehen in diesen Romanpartien ebenso wie in „Tonio Kröger“, „Tod in Venedig“, im „Zauberberg“ sowie in zwei für das Werkverständnis unentbehrlichen, von Weidermann wiederum ausgiebig zitierten autobiographischen Texten, dem Presseartikel „Süßer Schlaf“ (1909) und „Lübeck als geistige Lebensform“ (1926), Thomas Manns Festrede zur 700-Jahrfeier der Reichsfreiheit Lübecks, eine Gefühlseinheit ein. Diese wird assoziiert mit Unendlichkeit, Ewigkeit, Weltmüdigkeit, seligem Vergessen, Regression, Rückkehr in den Mutterleib, Glück ohne Pflicht – kurz: mit Wirklichkeitsverweigerung. Sie mündet in den „Buddenbrooks“ im „Verfall einer Familie“, in „Tod in Venedig“ mit Gustav von Aschenbachs suizidalem Entschluß, der Cholera-Epidemie nicht auszuweichen, und in anderen, meeresfernen Erzählungen wie „Tristan“ (1903), in Untergang und Chaos. 

Nur Hans Castorp, der auf dem besten Weg ist, aus kontemplativ-hermetischer Existenz, „ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel“ (Nietzsche), genauso widerstandslos ins Nichts zu entgleiten, kriegt überraschend die Kurve. In seinem „Schneetraum“, dem Kernstück des opulenten Romans, auf das auch Weidermanns ansonsten arg zerfasernde, vom Hauptthema Meer ständig abschweifende, dabei à la mode primär den homoerotischen Komplex bei Thomas Mann exponierende Darstellung endlich zusteuert, entsagt der dem Erfrierungstod nahe Held seiner nihilistischen Lust an Entbürgerlichung und Entgrenzung, überwindet seine Furcht vor bürgerlicher Verantwortung und Bindung. Castorp sucht nach dem Vorbild von Goethes Wilhelm Meister fortan Lebenserfüllung im praktischen Dienst für die Gemeinschaft. Ins Politische übersetzt: im Einsatz für Demokratie und Humanität, gegen erzromantische Transformationsutopien, die dem Menschen das Glück in der Auflösung der Persönlichkeit versprechen – im Meer der klassenlosen Gesellschaft, der Volksgemeinschaft, des multikulturellen Babylon.

Weidermann fügt dieser durch Thomas Manns Bekenntnis zur Weimarer Republik (1922) abgesicherte Standarddeutung des Romans noch die eigene oder (vielleicht) schon von Anke Oehmke entdeckte Pointe hinzu, daß Castorps Schneetraum, die Vision eines Südreichs glücklicher Menschen- und Meereskinder als Vorschein der wahrhaft demokratischen Zivilisation, ihren Ursprung im mütterlichen Heimatstrand habe. Das ist indes ein relativ unwichtiges Detail. Besser hätte er sich dem zeithistorischen Kontext des Romans gewidmet, um die Frage zu klären, wie Thomas Mann sich denn „die Demokratie“ vorstellte.

Nach heutigen Begriffen liefe die Antwort darauf hinaus, ihn nachträglich zum Verfassungsfeind zu stempeln. Denn um 1922, noch im Banne Oswald Spenglers, macht der „Zauberer“, der im US-Exil den neuen Cäsar Roosevelt und seine plutokratische „Führer-Demokratie“ preisen wird, sich dessen Definition zu eigen, nichts anders als die Fähigkeit eines Volkes, sich als Nation zu behaupten, sei die Voraussetzung jeder Demokratie: „Eine Nation ist Menschentum in lebendige Form gebracht.“ Fellachenvölkern jenseits des europäischen Abendlandes fehle solche Begabung. Aber diesen Deutungsrahmen will gerade der Zeit-Feuilletonist ­Weidermann seinem speziellen Leserpublikum offenbar nicht zumuten, das als willkommenstrunkenes „Fellachenvolk“ auf dem Rückweg nach „Kalkutta“ (Peter Scholl-Latour) längst jede Einsicht in den Zusammenhang von stabiler demokratischer Ordnung und ethnischer Homogenität verloren hat.

Volker Weidermann liest aus seinem Thomas-Mann-Buch am 21. September in Hamburg, zwei Tage später in Tübingen und am 28. September in Erfurt. Weitere Veranstaltungen in anderen Städten folgen im November. Alle Termine im Netz unter www.kiwi-verlag.de

Volker Weidermann: Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, gebunden, 236 Seiten, 23 Euro