© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/23 / 08. September 2023

Gespalten hier – selbstverliebt dort
Das deutsch-polnische Barometer verheißt nichts Gutes: Neue deutsche Perspektive kontra polnische Erwartungshaltung
Paul Leonhard

Ein Denkmal für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs soll in Berlin entstehen. Und zwar in Sichtweite des Kanzleramts, damit man dort nicht aus dem Blick verliert, wie hoch die polnischen Reparationsforderungen für von Deutschen zwischen 1939 und 1945 begangenes Unrecht an Polen sind: 1,35 Billionen Euro. Die für das Deutsch-Polnische Haus veranschlagten 140 Millionen Euro sind insofern Peanuts. „Die Deutschen müssen für die von ihnen begangenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden“, wetterte drei Tage später, anläßlich des 84. Jahrestages des deutschen Angriffs auf Polen, Janusz Kowalski in Warschau. Polen dürfe sich nicht mit Entschuldigungen und Bitten um Vergebung zufriedengeben, sondern „das deutsche Morden“ müsse „bezahlt werden“, so der als Deutschen-Fresser bekannte oberschlesische Politiker der Partei „Souveränes Polen“, der als Vize-Landwirtschaftsminister Mitglied der national-konservativen Regierung ist.

Antideutsche Töne gehören in der regierenden Koalition zum guten Ton. Dazu kommt, daß sich „die Polen immer noch von den Deutschen belehrt fühlen“, wie Agnieszka Łada-Konefał, Vizechefin des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, konstatiert. Je mehr sich Berlin und Brüssel in innerpolnische Angelegenheiten einmischen, um so mehr wächst die antideutsche und antieuropäische Stimmung im Nachbarland. Die eigentlich Bösen sind dabei, egal ob es sich um das Fischsterben in der Oder, die Situation der polnischen Wirtschaft oder den Streit über die weitere Abbaggerung von Braunkohle in Turow handelt, in jedem Fall die Deutschen, die, so verbreiten es die regierende PiS und ihr Vorsitzender Jarosław Kaczyński, weiterhin über die Polen herrschen wollen und das Land diesmal mit Hilfe der EU „unter den deutschen Stiefel“ zwingen wollen.

Welche Wirkung haben Polens Reparationsforderungen?

Welche Wirkung die fast täglichen Berichte der Medien über deutschlandkritische oder gar deutschlandfeindliche Äußerungen von Vertretern der polnischen Regierung sowie die erneut auf die Tagesordnung gesetzten polnischen Reparationsforderungen gegenüber Berlin auf Polen und Deutsche haben, wertete das Institut für öffentliche Angelegenheiten in Warschau in seinem „Deutsch-Polnischen Barometer“ aus. Dabei wurden die Antworten der Befragten auf folgende soziodemographische Merkmale hin analysiert: Geschlecht, Bildung, Alter, Wohnort (Größe der Stadt/Gemeinde, Ort des Bundeslandes/der Woiwodschaft) sowie nach einem eventuellen Migrationshintergrund.

„Zwiegespaltene Polen, skeptische Deutsche“ haben Jacek Kucharczyk und Agnieszka Łada-Konefa ihr 46seitiges Papier über die „gegenseitigen Wahrnehmungen vor dem Hintergrund der polnischen und deutschen Geschichtspolitik“ überschrieben. Denn negativ sehen bei den Fragen zum Zustand der Demokratie, der Wirtschaft, zur Korruptionsbekämpfung und zu Frauenrechten lediglich sieben bis zwölf Prozent der befragten Polen ihr Nachbarland. „Somit ließe sich folgern, daß in Polen nach wie vor ein positives Deutschlandbild vorherrscht, wenn es da nicht den erheblichen Anteil von Befragten gäbe, die entweder eine neutrale oder gar keine Antwort geben“, schreiben die Autoren. Dies aber führe dazu, daß „man das Deutschlandbild der Polen nicht als eindeutig positiv bezeichnen kann“.

Aber auch die ständige negative Berichterstattung über die polnische Regierung und insbesondere ihren Widerstand gegen das Europarecht durch die deutschen Mainstreammedien hinterläßt Spuren. So ist zwar die polnische Wirtschaft der vergleichsweise am besten bewertete Kontext bei den deutschen Befragten, aber „selbst hier machen die positiven Bewertungen weniger als ein Drittel aus; fast gleichauf liegen die neutralen Bewertungen“, heißt es in dem Papier. In allen anderen Fragen fällt der Anteil der positiven Bewertungen noch geringer, teilweise sogar deutlich geringer aus. Am skeptischsten äußern sich die deutschen Befragten zur Lage betreffend die Achtung der Frauen und Minderheitenrechte und zur Korruptionsbekämpfung. Hier liegen die Bewertungen bei unter drei, somit unterhalb eines neutralen Wertes, wohingegen die übrigen Antworten im Durchschnitt allesamt etwas über einem neutralen Wert zu finden sind.

Frank-Walter Steinmeier will von Spannungen nichts wissen

Schlecht steht es dagegen aus Sicht der Befragten um die deutsch-polnischen Beziehungen. Auch wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Staatsbesuch im April in Warschau anläßlich des Jahrestages des Aufstands im Warschauer Ghetto die Versöhnung mit Polen ein „unendlich kostbares Geschenk“ nannte, das die Deutschen „nicht erwarten konnten und durften“, sowie von einer „tiefen Freundschaft zwischen unseren Ländern“ sprach, die „wahrlich ein Wunderwerk“ sei, so halten weniger als 50 Prozent der für das Barometer befragten Polen die deutsch-polnischen Beziehungen für positiv, 39 Prozent sogar für schlecht – während 61 Prozent der Deutschen das Verhältnis zum östlichen Nachbarn positiv und lediglich 23 Prozent als negativ sehen. Von jenen, die die bilateralen Beziehungen mit schlecht bewerten, sehen 51 Prozent der Polen und 42 Prozent der Deutschen die Schuld in der Politik der polnischen Regierung gegenüber Deutschland.

Speziell die in der Woiwodschaft Oppeln lebenden Angehörigen der deutschen Minderheit bewerten zu 70 Prozent die deutsch-polnischen Beziehungen als schlecht. Grund dafür dürften die gravierenden Verstöße Warschau gegen die von der EU garantierten Minderheitenrechte sein. So werden die deutschsprachigen Kinder seit 2022 diskriminiert, indem ihnen nur noch eine Wochenstunde muttersprachlicher Unterricht angeboten wird, während alle anderen Minderheiten in Polen weiterhin drei erhalten.

Anders sieht es beim Blick auf die Geschichte aus. Hier glaubt die Hälfte der Polen, wie bereits in den Umfragen zuvor, daß das historisch erfahrene Leid und die erbrachten Opfer der Polen in der deutschen Öffentlichkeit nicht genügend Anerkennung finden, während die Hälfte der deutschen Befragten der Ansicht ist, daß dies sehr wohl ausreichend gewürdigt wird, und 60 Prozent der Überzeugung sind, daß Deutschland genug getan habe, um Polen für seine Opfer und Verluste zu entschädigen. Die Polen zeigen sich hier dagegen gespalten. 29 Prozent sind der Meinung, Deutschland habe zu wenig getan, 27 Prozent finden, es habe einiges getan, aber noch nicht genug. Und 25 Prozent finden, Berlin habe genug getan.

Die deutschen Befürworter einer weiteren Wiedergutmachung setzen dabei auf die Kriegsgräberpflege oder den Wiederaufbau kriegszerstörter polnischer Baudenkmäler. Auch der Polenbeauftragte der Bundesregierung, Dietmar Nietan, sieht „noch viel Luft nach oben für entsprechende Gesten“ des guten Willens und der Wiedergutmachung, die am Ende auch den deutschen Steuerzahler Geld kosten müßten. Der Sozialdemokrat befürwortet einen Zukunftsfonds und ebenfalls den Wiederaufbau im Zweiten Weltkrieg zerstörter Kulturgüter wie des Sächsischen Palais in Warschau mit deutschem Geld, um ein Tauwetter in den deutsch-polnischen Beziehungen einzuleiten. Steinmeier verstieg sich dagegen in Warschau zu einer These, die selbst die „Deutsche Welle“ angesichts der Spannungen zwischen Warschau und Berlin als „gewagt“ bezeichnete: „Unsere Länder, unsere liberalen Demokratien sind in den vergangenen Monaten noch enger zusammengerückt, unsere Freundschaft steht heute auf einem noch stärkeren Fundament.“

Das Leid der Vertriebenen ist auf beiden Seiten kein Thema mehr

Und für die grüne Außenministerin Annalena Baerbock sind Deutschland und Polen ohnehin auf ewig miteinander verbunden: „Was wir haben, ist eine Herzensfreundschaft zwischen Millionen von Menschen, eine Freundschaft und Partnerschaft, die stärker ist als politische Meinungsverschiedenheiten.“ Von den verlorenen Ostgebieten und dem Leiden Millionen deutscher Heimatvertriebener, Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter spricht niemand mehr. Die deutsch-polnische Aussöhnung fand „zwischen intellektuellen Kreisen statt, nicht aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene“, erinnern dagegen Karolina Wigura und Jarosław Kuisz in ihrer in der „Kultura Liberalna“ des Zentrums Liberale Moderne erschienenen Analyse: „Im Namen von Polen und Deutschen sprachen und sprechen Intellektuelle, Geistliche und Politiker, doch diese Art der Versöhnung ist in Zeiten der Demokratisierung und sozialer Medien nicht mehr überzeugend.“

Die aktuellen Ergebnisse des „Deutsch-Polnischen Barometers 2023“ stellen für den aufmerksamen Beobachter der Beziehungen zwischen beiden Ländern wohl keine Überraschung dar, schreiben die Autoren als Fazit: Sowohl die Meinungsbilder zu den untersuchten Themen als auch die Veränderungen im Vergleich zu früheren Umfragen – 2021 hatten noch 57 Prozent der Deutschen und 65 Prozent der Polen die deutsch-polnischen Beziehungen als „sehr gut“ oder „eher gut“ bewertet  – würden sich durch die gegenwärtige Dynamik in den deutsch-polnischen Beziehungen, die scharfen Töne aus Warschau in Richtung Deutschland und die von Mißtrauen, Desinteresse oder gar Abneigung erfüllte herrschende Stimmung erklären lassen. Die Meinungsunterschiede zu Deutschland seien zwischen den Anhängern des Regierungslagers und denen der Opposition – auch das belegt die Studie – enorm. Spaltungen, die auch bleiben werden, unabhängig davon, wer in den kommenden Jahren in Warschau regieren wird.

Entscheidend für die künftige Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen sei, ob die entsprechende Rhetorik der Regierenden effektiv verstärkt oder abgeschwächt werde. Gleichzeitig machen die Autoren darauf aufmerksam, daß „die derzeitigen und die nachrückenden politischen Eliten Deutschlands, anders als ihre Vorgänger, nicht in der Gewißheit sozialisiert sind, daß Polen aufgrund der gemeinsamen Geschichte immer eine besondere Rolle in der deutschen Perspektive spielen sollte“.

Diese neue deutsche Perspektive treffe auf eine gesteigerte polnische Erwartungshaltung in bezug auf Anerkennung, Entschädigung für in der Vergangenheit erlittene Verluste sowie eine generelle besondere Behandlung Polens durch den westlichen Nachbarn. Noch vor zwei Jahren hatten zwei Drittel der deutschen und polnischen Befragten betont, daß man sich in den gegenseitigen Beziehungen vor allem auf die Gegenwart und Zukunft konzentrieren sollte und weniger auf die Vergangenheit. Das hat sich mit PiS gründlich geändert.

Die erwähnte Studie wurde im Rahmen der Reihe „Deutsch-Polnisches Barometer“ im Auftrag des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau, des Deutschen Polen-Instituts, der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen sowie der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit erstellt.