Das Wasser kommt nicht mehr aus dem Hahn, der Strom fällt aus, und die Regale im Supermarkt sind leer. Alles nicht neu in Stepanakert. „In den Geschäften fehlt es mittlerweile schon an den banalsten Dingen“, schildert der Fotograf David Ghahramanyan im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT die Not. Der Reporter ist mit etwa 150.000 weiteren Menschen in Bergkarabach eingeschlossen.
Die Gebirgsregion im Kleinen Kaukasus wurde vor mehr als acht Monaten von aserbaidschanischen Grenzern abgeriegelt. Als Klimakleber verkleidet, blockierten sie im Dezember 2022 den Latschin-Korridor. Aus der vermeintlichen Ökoaktion wurde bald ein offizieller Checkpoint. Russische Friedens-truppen, dafür bestellt, eine Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan zu verhindern, griffen nicht ein. Seitdem herrscht in der international nicht anerkannten Zwergrepublik Arzach der Mangel. Ein französischer Hilfskonvoi wurde nicht durchgelassen. Nicht einmal das Rote Kreuz erhält Zutritt. Es warnt: „Der Zivilbevölkerung fehlt es an lebensrettenden Medikamenten und lebensnotwendigen Dingen wie Hygieneartikeln und Babynahrung. Obst, Gemüse und Brot werden immer knapper und teurer, während einige andere Lebensmittel wie Milchprodukte, Sonnenblumenöl, Getreide, Fisch und Hühnchen nicht erhältlich sind.“
Armeniens Präsident Paschinjan muß sich vor Protesten fürchten
Der Reporter Ghahramanyan erklärt, was das heißt. „Um zwei Brote zu kaufen, müssen Sie sich tagsüber vor der Bäckerei anstellen. Das dauert dann meist drei Stunden. In der Nacht läuft es so ähnlich.“ Neulich habe er einen Fototermin in einem Kindergarten gehabt. Die Jungen und Mädchen hätten malen sollen, was sie am meisten vermissen. Herausgekommen seien Buntstiftzeichnungen von Pizza, Bonbons und Limonade.
Der Krieg ist noch nicht einmal drei Jahre her. Damals haben aserbaidschanische Truppen die Stellungen der Karabach-Armenier in den Bergen förmlich überrannt. Diese verloren in drei Monaten etwa 70 Prozent ihres Territoriums. Die mit Waffen aus alten Sowjetbeständen ausgestatteten Soldaten der Republik Arzach hatten dem aserbaidschanischen Militärmix aus modernen Drohnen und syrischen Gotteskriegern nicht viel entgegenzusetzen. Auf dem Höhepunkt des Krieges erklärte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, nicht nur Bergkarabach, sondern auch die armenische Hauptstadt Eriwan sei historisch aserbaidschanisches Gebiet.
Die Drohung wirkt bis heute nach. In Armenien ist der Völkermord vor über hundert Jahren fester Bestandteil der Erinnerungskultur. Präsident Nikol Paschinjan sah sich nach der Niederlage daher mit stürmischen Protesten konfrontiert. Soldaten wie Zivilisten warfen ihm vor, er sei nicht in der Lage, sie vor einem erneuten Genozid zu schützen.
Davor hat auch der ehemalige Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof, Luis Moreno Ocambo, zuletzt gewarnt. „Die Blockade des Latschin-Korridors durch aserbaidschanische Kräfte ist ein Völkermord an den in Bergkarabach lebenden Armeniern.“ Dennoch äußerten sich die Vereinten Nationen eher zurückhaltend. Alle Seiten seien aufgerufen, das diplomatische Parkett zu betreten, statt weiter Drohgebärden auszutauschen. Auch die EU zeigte sich verlegen um deutliche Signale, hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen doch erst vergangenes Jahr einen lukrativen Gas-Deal mit Aserbaidschan unterzeichnet.
In Baku sieht man sich derweil im Recht. Sogar einen Hilfskonvoi habe man beigesteuert, betonte ein Regierungssprecher. Der Vorwurf, in Bergkarabach werde Völkermord betrieben, sei an den Haaren herbeigezogen. Der Latschin-Korridor ist tatsächlich nicht die einzige Verbindung Bergkarabachs zur Außenwelt. Die aserbaidschanischen LKWs wurden aber von armenischen Demonstranten blockiert. „Wir kämpfen nicht dafür, uns die Bäuche vollzuschlagen, sondern darum, frei und sicher in unserer Heimat leben zu können“, begründet der Fotograf Ghahramanyan die schwer verständliche Reaktion. Es sei paradox, daß Aserbaidschan die humanitäre Krise leugne und gleichzeitig Mehl schicke. „Wir wollen diese Hilfe nicht.“
Im Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica deutete Armeniens Präsident unterdessen an, von der Unterstützung für die Separatisten abzurücken, falls Aserbaidschan im Gegenzug dafür die Integrität seines Landes anerkennt. Wohl noch mit den Massenprotesten im Hinterkopf, mahnte Paschinjan an, daß Bergkarabach unter der Verwaltung der Republik Arzach stehe, er selbst also nicht verantwortlich sei. Diese Unzuständigkeitserklärung wiegt schwer, hat der Ministaat den aserbaidschanischen Streitkräften doch nichts entgegenzusetzen als altes sowjetisches Gerät.
Der Druck auf die Politiker in Stepanakert ist hoch. Mit Arayik Harutyunyan, dem Präsidenten der Republik, hat schon der erste aufgegeben. Er wolle Verhandlungen mit Aserbaidschan nicht im Wege stehen, begründete er seinen Rücktritt. Daß die russischen Friedenstruppen sich noch an ihre Mission erinnern, muß bezweifelt werden. Moskau ist der Auffassung, daß es sich bereits an das Schutzmandat halte. Der Verzicht, im Kleinen Kaukasus einzugreifen, kontrasiert mit der Selbstinszenierung als konservativer Großmacht. Armenien gilt als erster christlicher Staat der Geschichte und beherbergt zahllose Kulturschätze.
Doch die Belastungen durch den Krieg in der Ukraine sind für den Kreml zu hoch, um sich ein weiteres Engagement leisten zu können. Auch der Gram über die „Samtene Revolution“ in Eriwan vor fünf Jahren füttert die Verweigerungshaltung. Kein Wunder, wenn in Bergkarabach über die Flucht nach Armenien nachgedacht wird. Vorausgesetzt, der Korridor öffnet sich. Das könnte das Kalkül in Baku sein. Der armenische Reporter will seine Hoffnungen aber nicht begraben. „Wenn die Straße geöffnet wird, werden wir einfach in unserer Heimat weiterleben. Dieses Land ist mit uns verbunden, weil unsere Vorfahren um es gekämpft haben.“ Eine sture Haltung. Vor Stepanakert steht das Denkmal „Wir sind unsere Berge“. Zwei große, in Stein gehauene Gesichter blicken ernst auf das Gebirge am Horizont. Womöglich hilft der Starrsinn am Ende noch.